Die Reise Zur Stadt Der Toten
stand zu seiner Rechten, um ihn zu stützen, falls das nötig sein sollte. Mii-an lehnte sich auf einen etwas krummen Stock.
»Man hat mir von der Störung berichtet«, sagte er mit überraschend kräftiger Stimme.
»Keine Störung«, murmelte Etienne und fuhr fort, sein Gepäck zu inspizieren. »Nur ein freundliches, häusliches Gespräch, das ist alles.«
»Wir wollen uns nicht einmischen«, sagte Tyl. »Es würde mich sehr unglücklich machen, wenn ich denken müßte, wir …«
»Ach, du liebe Güte!« Etienne drehte sich ruckartig um und stellte sich den Neuankömmlingen entgegen. »Müßt ihr Leute immer so verdammt höflich sein?«
»Es tut uns leid«, sagte Mii-an. »Das ist unser Wesen.«
Etienne warf beide Hände in die Höhe.
»Eine solche Störung kann nicht gestattet werden«, sagte Mii-an.
»Was meinst du damit - ›sie kann nicht gestattet werden‹?« fragte ihn Etienne.
»Zwietracht unter Gästen kann nicht geduldet werden.«
»Wirklich? Und was schlagt ihr als Lösung vor?«
Mii-an schlurfte über das Pflaster, bis er dicht neben Lyra stand. Er griff nach ihrer linken Hand und hielt sie in einem fremdartigen Griff, den Etienne bisher noch nie gesehen hatte.
»Ihr müßt mit Eurem Gefährten gehen. Wenn Eure Dualität der Preis Eurer Studien sein soll, dann kann ich nicht zulassen, daß Ihr sie fortsetzt. Wenn alles gelöst ist, mögt Ihr ein andermal zurückkehren, um mit uns zu studieren.«
»Aber das war doch schon entschieden«, protestierte sie. »Ich sollte hier bleiben und meine Forschungsarbeit fortsetzen, lernen, wie ihr lebt …«
Der Cheftröster hob eine sechsfingrige Hand. »Ihr werdet uns fehlen, denn Ihr besitzt einen Wissensdurst, der fast so ist wie unser eigener. Wenn Ihr die Arbeit Eures Gefährten hierherbringen könntet, wäre alles einfach; aber es ist schwer, Berge zu bewegen. So ist es viel vernünftiger, daß Ihr ihn begleitet. Außerdem könnt Ihr Eure Studien fortsetzen, denn etwas von Eurer Arbeit kann mit Euch gehen, und dafür wären wir höchst dankbar.«
»Ich verstehe nicht, Mii-an.« Etienne hörte zu, ohne den anderen anzusehen. Offenbar ergriff der Erste Gelehrte seine Partei, und es war ihm peinlich, daß er zuerst ärgerlich reagiert hatte.
»Jenseits der Lande, die flußaufwärts von Turput liegen, gibt es viele, die euren Mai-Gefährten unbekannt sind.« Er wies nach rechts. »Wenn Ihr es gestattet, werden Tyl und vier Träger euch begleiten. Er ist weitgereist, kennt viele Leute und die Dialekte, die man am Fluß spricht. Wenn Ihr den Bereich seines Wissens verlaßt, wird er dabeisein und für ganz Turput sehen und studieren. Und wenn er euch nicht führt, kann er doch fortfahren, euch über unser Leben aufzuklären.«
»Ihr habt gesagt, Ihr würdet das selbst tun.«
»Der Lehrer ist nicht wichtig, nur auf das Wissen kommt es an.«
»So einfach ist das nicht.« Sie warf Etienne einen Blick zu, aber ihr Mann wich ihm geflissentlich aus. »Anscheinend hast du es doch geschafft. Mit dir kann ich mich auseinandersetzen, aber nicht mit der Logik der Tsla - das heißt, wenn du nichts dagegen hast, daß Tyl mitkommt.«
»Ich habe nichts dagegen. Aber das liegt nicht nur bei uns.« Er richtete sich von dem Bündel auf, das er so gründlich untersucht hatte. »Homat?«
»Du hast bereits einen Führer, de-Etienne«, erwiderte der.
»Ja, und zwar einen sehr guten. Aber was der alte Tsla sagt, ist sehr einleuchtend. Hast du nicht gesagt, der Fluß sei dir von hier an fremd?«
»Ja, ja.« Homat zögerte immer noch, etwas von seiner mühsam gewonnenen Autorität abzugeben. »Ich sehe, daß du recht hast, de-Etienne. Ein Tsla, der den Weg kennt, würde willkommen sein.« Er zupfte an der Kapuze seines Mantels. »Alles würde willkommen sein, das uns schnell aus diesem kalten Land herausführt.«
Etienne grinste. »Ich bitte um Entschuldigung. Ich habe euch wohl irgendwie alle aus dem warmen Bett geholt, und das am Äquivalent eines eisigen Morgens.« Er wandte sich wieder dem Ersten Gelehrten zu. »Wir nehmen Euer freundliches Angebot an. Tyl hat uns seit unserer Ankunft hier nur geholfen, und ich sehe keinen Grund, seine Gesellschaft abzulehnen. Was empfindest du dabei, Tyl? Du hast überhaupt nichts gesagt.«
»Die Entscheidung liegt bei Mii-an, aber ich freue mich darauf. Ich werde viel neues Wissen hinzugewinnen. Das ist eine einmalige Gelegenheit für mich.«
»Dann ist das wohl entschieden, denke ich.« Lyra setzte sich in Richtung auf den
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