Die Reise Zur Stadt Der Toten
kann es ihnen nicht verübeln. Das Leben, das die Guntali erlaubt, muß sehr hart sein.«
»Das hört sich an, als wärest du bereit, ihnen zu verzeihen«, sagte Etienne und musterte die Leichen, die vor und hinter dem zerstörten Tor verstreut lagen.
»Das tun wir immer«, erklärte der Erste Gelehrte. »Haben sie nicht Seelen so wie wir? Man muß sie um ihrer Unwissenheit und ihrer Schwächen willen eher bedauern als hassen.«
»Ich habe nicht viele Schwächen gesehen; aber ich habe bereits gelernt, daß ihr Tsla eher bereit seid, zu verzeihen, als wir Menschen.« Die Stadtbewohner waren bereits damit beschäftigt, die Toten zu entfernen. Das rief eine unangenehme Erinnerung in ihm wach.
»Nachdem die … Beisetzungszeremonien … abgeschlossen sind, was macht ihr dann mit den Leichen eurer Hingeschiedenen?« Er konnte Tyl nicht ansehen, während er das sagte. Der Führer spürte sein Unbehagen und überließ es diskret dem Ersten Gelehrten, Antwort zu geben.
»Hier verbrennen wir die Leichen und verstreuen die Asche dann über unsere Felder, damit die Hingeschiedenen dem Boden Nahrung zufügen und der nächsten Generation helfen mögen, eine bessere Ernte einzubringen.«
»Damit die Na die Ernte wieder stehlen können. Ihr solltet dem ein Ende machen.«
»Das wäre schön«, sagte der Alte, »aber das ist leider nicht möglich. Wir können die Na nicht zur Guntali-Ebene hinauf verfolgen. Dort ist es für uns zu kalt, und die Luft ist zu dünn, als daß wir kämpfen könnten. Dort oben sind sie die Herren.
Dafür können sie hier unten nicht lange kämpfen. Das dichte Fell, das sie vor der Kälte der Guntali schützt, bewirkt, daß es ihnen hier schnell zu heiß wird, wenn sie sich körperlich betätigen, und dann müssen sie sich zurückziehen.«
»Ich bin froh, daß ich mich zu meinem Schutz nicht auf das Klima verlassen muß«, erwiderte Etienne. Nicht daß es ihm zukam, die Art und Weise zu kritisieren, wie diese Tsla ihr Leben einrichteten.
»Tatsächlich«, fuhr der Stadtälteste fort und überraschte damit seine menschlichen Zuhörer, »gibt es Zeiten, wo wir friedlichen Handel mit den Na treiben.«
»Man hatte mir gesagt, daß die Tsla die Vermittlung zwischen den Mai und den Na herstellen, aber das war aus irgendeinem Grund meinem Gedächtnis entglitten.«
»Ihr dürft sie nicht nur nach diesem ungewöhnlichen Angriff beurteilen«, riet ihm Ruu-an. »Es kommt häufig vor, daß auch die Mai es vorziehen zu kämpfen, anstatt Handel zu treiben.«
Etienne war froh, daß Homat beim Boot geblieben war. »Hör zu, ich stehe hier und nehme alle diese Informationen in mich auf, und dabei ist das gar nicht meine Zuständigkeit. Lyra ist es, die das alles aufzeichnen sollte.« Er sah sich um und warf einen prüfenden Blick auf das Schlachtfeld. »Wo ist sie denn? Ich habe sie nicht mehr gesehen, seit wir uns getrennt haben, um die beiden Na anzugreifen.«
»Ah, weise Lehrerin Lyra«, murmelte Tyl.
»Ja. Hat sie sich an dich gehalten, Tyl?« Plötzlich war ihm sehr kalt; die Art von Kälte, die von innen heraus kommt und dazu führt, daß sich die Arm- und Beinmuskeln verkrampfen.
»Nein. Wir wurden während des Kampfes getrennt. Seitdem habe ich sie nicht mehr gesehen. Vielleicht sollten wir an die Stelle zurückkehren, wo wir den Kampf begonnen haben.« Seine Stimme klang besorgt.
Von Lyra keine Spur. Nicht, wo Etienne und die Bauern die beiden Na getötet hatten; nicht auf den Straßen in der Nähe, nicht vor dem Tor. Man befragte die Stadtbewohner; sicherlich würden sie wissen, wo sie war. Ein fremdes Wesen, das in ihrer Mitte kämpfte, mußte aufgefallen sein.
Als dann die Nachricht kam, war sie in ihrer Endgültigkeit erschütternd.
13. Kapitel
Die Ziele der Expedition, seine Hoffnung auf Wiederherstellung der persönlichen Harmonie, die Vorträge, die sie vor verschiedenen wissenschaftlichen Gemeinschaften zu halten geplant hatten, die Anerkennung, die Ehrungen - sie alle bedeuteten plötzlich nichts im Vergleich zu der Leere, die in sein Herz eingezogen war. Zehn Jahre harter Arbeit waren ebenso in Trümmer gegangen wie das Tor, das Jakaie so wenig wirksam geschützt hatte.
Einige der Stadtbewohner hatten gesehen, wie die fremde Frau in dem Beutesack eines Na verschwand. Sie waren sicher, daß sie zu dem Zeitpunkt noch gelebt hatte. Zwei oder drei Tsla waren mit ihr in den Sack gestopft worden.
Etienne und Tyl eilten, begleitet von dem Ersten Gelehrten zu der schmalen Straße in der
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