Die Reliquienjägerin: Historischer Roman (German Edition)
der Festtag sich mit dem Sonnenuntergang dem Ende zugeneigt hatte, waren dunkle Wolken aufgezogen, und in der Nacht war Rebekka vom lauten Prasseln des Regens erwacht. Zwei Wochen war das nun her. Die Straßen hatten sich inzwischen in stinkende Sümpfe verwandelt, in denen man bei jedem Schritt fast knietief versank. Die Feuchtigkeit war in die Häuser gezogen, alles war klamm geworden, selbst Vaters kostbare Bücher, die sicher verwahrt in der großen Truhe lagen.
Heute schien endlich wieder die Sonne, und Rebekka hatte sich davongestohlen zu ihrem Lieblingsplatz, der Ruine der alten Burg. Sie streifte gern durch das Gelände mit den zerfallenen Gebäuden vor den Toren der Stadt, stellte sich vor, sie sei eine Prinzessin, oder kletterte auf einen Mauerrest und genoss den weiten Blick ins Tal.
Rebekka hatte das Wandgemälde in dem halb verfallenen Christengotteshaus betrachtet, das Bildnis einer Frau mit einem kleinen Kind auf dem Arm. Die Frau sah gütig aus und betrachtete das Kind mit liebevollem Blick. Der Rabbi hatte ihr ein mal erzählt, dass das Kind der Sohn des Christengottes war, und dass die Christen glaubten, Gott hätte diesen Sohn auf die Erde geschickt, um die Menschen von der Sünde zu erlösen. Rebekka fand das merkwürdig. Warum schickte dieser Gott ein Kind auf die Welt, das schwach und hilflos war?
Über dem Bildnis wölbte sich bogenförmig eine in lateinischer Sprache abgefasste Inschrift. Rebekka konnte die Wörter zwar nicht verstehen, doch der Rabbi hatte sie bereits die Grundlagen des lateinischen Alphabets gelehrt, sodass sie die Buchstaben wiedererkannte.
Jetzt saß sie draußen auf einem Stein, der einmal Teil der Burgmauer gewesen war, und malte die Inschrift aus dem Gedächtnis auf ihre Wachstafel. Es war nicht schwer, weil sie die Buchstaben vor sich sah, als stünde sie noch immer in dem halb verfallenen Gotteshaus.
Sie bemerkte erst, dass sich jemand näherte, als ein Schatten über ihre Tafel fiel. Erschrocken hob sie den Blick. Ein Junge stand vor ihr, etwa genauso alt wie sie, acht, vielleicht auch schon neun. Sein kinnlanges braunes Haar war zerzaust, und unter seinem linken Auge prangte ein blutiger Kratzer.
»Was machst du da?«, fragte er.
Rebekka blickte sich ängstlich um; ein paar Burschen aus der Schmiedgasse hatten letzte Woche den kleinen Jakob abgefangen und verprügelt, als er für seinen Vater ein Pfund Nägel abholen sollte. Doch der fremde Junge war offenbar allein. Stumm hielt sie ihm die Tafel hin.
»›Regina pacis ora pro …‹«, entzifferte er. »Das ist Latein. Gehst du zur Schule? Musst du das auswendig lernen?«
Rebekka schüttelte den Kopf. »Bei uns gehen nur die Jungen zur Talmudschule. Aber der Rabbi gibt mir Unterricht.« Sie lächelte stolz, dann biss sie sich auf die Lippe. Sie hatte sich verraten, jetzt wusste er, dass sie Jüdin war.
Aber er überraschte sie. »Du lernst christliche Verse bei deinem Rabbi?«, fragte er erstaunt.
»Nein«, antwortete sie rasch. »Das habe ich in dem Haus dort gesehen.« Sie deutete mit dem Finger auf die Ruine. »Da ist das Bildnis einer Frau mit einem Kind an die Wand gemalt, und darüber steht diese Inschrift. Weißt du, was die Worte bedeuten?«
Der Junge beugte sich über die Tafel.
»Warte, es fehlt noch ein Wort.« Schnell beendete sie den Text: Regina pacis ora pro nobis.
Du kannst die Inschrift auswendig?« Der Junge sah sie mit großen Augen an.
»Ich habe sie mir angeschaut, und jetzt sehe ich sie in meinem Kopf vor mir.« Rebekka senkte verlegen den Kopf.
»Teufel! Das möchte ich auch können! Bringst du es mir bei?«
Rebekka hob die Schultern. »Ich weiß nicht, wie es geht. Es passiert einfach.« Sie hielt ihm die Tafel hin. »Kannst du mir sagen, was die Worte bedeuten?«
Der Junge übersetzte stockend. »Königin des Friedens, bete für uns.«
»Wer ist die Königin des Friedens?«, fragte Rebekka.
»Maria, die Gottesmutter. Die Frau mit dem Kind auf dem Arm, die du auf dem Bildnis gesehen hast.« Er hielt ihr die Hand hin. »Johann.«
Sie lächelte. »Rebekka.« Sie deutete auf den Kratzer unter seinem Auge. »Was ist passiert?«
»Der Anton wollte mir den Bogen wegnehmen, den ich mir aus einem Weidenstab gebaut habe.«
»Hat er ihn bekommen?«
»Natürlich nicht.« Johann grinste schief. Er wurde ernst. »Aber nun hat Vater ihn mir abgenommen, weil der Magister ihm gesagt hat, ich würde es an Fleiß und Sorgfalt beim Lernen mangeln lassen.«
»Du lernst nicht gern?«,
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