Die Reliquienjägerin: Historischer Roman (German Edition)
jetzt schon ein oder zwei Männer wie diesen Knecht besiegen. Vielleicht auch noch einen dritten. Allerdings waren seine Gegner bessere Kämpfer als der Stallknecht. Engelbert griff nach einem Becher mit verdünntem Wein und leerte ihn in einem Zug. Dann nahm er ein Stück Zuckerkuchen, kaute es sorgfältig und trank dazu einen Becher frische Ziegenmilch.
Engelbert war sich bewusst, dass der Herrgott seine Hand über ihn gehalten hatte, als der Zug überfallen worden war. Ein Armbrustbolzen hatte ihn ins Bein getroffen, noch bevor er sein Schwert hatte ziehen können. Die Pferde waren durchgegangen, dann war der Wagen vom Weg abgekommen, auf die Seite gekippt und hatte ihn unter sich begraben. Bei dem Sturz war sein Kopf gegen einen Balken geschlagen, und er hatte das Bewusstsein verloren. Niemand hatte ihn beachtet, vermutlich weil ihn alle für tot gehalten hatten. Wären es Söldner gewesen und keine Räuber, er hätte den Tag nicht überlebt. Kein Söldner, der bei Verstand war, vergaß, sich zu vergewissern, dass der Feind auch wirklich tot war.
Engelbert legte das Geschirr beiseite und nahm sich den Brief vor, den er gerade an den König schrieb. Bis zur Krönung in einer Woche mussten die Vorbereitungen für Znaim weitgehend abgeschlossen sein, denn er wollte möglichst bald danach aufbrechen. Das Jahr schritt voran, das Wetter verschlechterte sich täglich, und die Aufgabe in dem Kloster konnte unter Umständen einige Zeit in Anspruch nehmen. An diese Reliquie würde er nicht mit einem plumpen Diebstahl herankommen.
In dem Schreiben bat Engelbert den König um eine Eskorte, um Pferde, Geld, Waffen, Geleitbriefe und die Erneuerung seiner Unangreifbarkeit: Er musste Handlungsspielraum haben, durfte keiner anderen Gerichtsbarkeit als der des Königs unterstehen.
Engelbert rief einen Boten, der sein Schreiben sofort übergeben sollte. Nachdem die Tür hinter dem Burschen zugefallen war, lehnte Engelbert sich zurück. Nun zu Amalie Severin. Alias Amalie Belcredi alias Rebekka bat Menachem.
Engelbert wusste nicht, was er von der Geschichte halten sollte, die Rebekka ihm aufgetischt hatte. Es fiel ihm schwer zu glauben, dass sie eine Belcredi war. Die Belcredis waren Christen, die für ihren Eifer, gottgefällig zu leben, in ganz Böhmen bekannt gewesen waren, bevor sie eines Tages spurlos verschwanden. Und sie waren nicht das gewesen, was man Judenfreunde nennen konnte. Warum hätten sie ihr Kind ausgerechnet in die Obhut einer jüdischen Familie übergeben sollen? Das hätten sie niemals getan. Es sei denn …
Engelbert trat ans Fenster und blickte hinaus in den Hof. Knechte luden zwei Wagen ab, ein Bruder überwachte die Arbeit, damit nichts gestohlen wurde. Der eine Wagen war mit Mehlsäcken gefüllt, der andere barg einen großen Schatz: Wein aus dem Burgund und Bier aus Pilsen. Seine Brüder mochten einen Großteil ihrer Zeit auf die geistige Einkehr verwenden, aber nicht viel weniger Zeit verbrachten sie im Zustand seliger Verzückung, hervorgerufen durch geistige Getränke.
Engelbert ballte die Faust. Er musste dringend etwas über die Belcredis in Erfahrung bringen. Schon längere Zeit hatte er nichts mehr von ihnen gehört, und das wenige, das ihm zu Ohren gekommen war, beruhte im Wesentlichen auf Gerüchten. Er wusste lediglich, dass die Familie vor etwa zwei Jahrzehnten Hals über Kopf aus Böhmen geflohen war. Sie hatte sowohl ihr Stadthaus in Prag als auch die Burg Pasovary verwaist zurückgelassen. Es hieß, sie hätte sich einem geheimen Bündnis angeschlossen, einer häretischen Sekte, und sie sei deshalb bei Kirche und König in Ungnade gefallen. Gehörten die Belcredis vielleicht zu den Waldensern?
Engelbert trat zur Tür. Ungewissheit war ihm ein Gräuel, also beschloss er, jemanden auszusenden, der ihm die nötigen Informationen liefern konnte. Wen sollte er schicken? Jemanden, dem niemand Beachtung schenkte und der sich beiläufig ein wenig umhören konnte, ohne dass seine Fragen Aufmerksamkeit erregten. Nach kurzem Überlegen fiel Engelberts Wahl auf Sebastian Pfrümler, ein Waisenkind und Novize im Rang eines Halbkreuzlers, der schnell lernte und sich geschickt anstellte, wenn es darum ging, mit Leuten ins Gespräch zu kommen. Erst gestern hatte er Rebekka ohne Zwischenfälle bei Tassilo Severin abgeliefert. Engelbert ließ nach ihm rufen, erklärte ihm seine Aufgabe und gab ihm Geld.
»Tu nichts Unbedachtes, Junge«, ermahnte er ihn. »Und erzähle nicht, in wessen Auftrag du
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