Die Reliquienjägerin: Historischer Roman (German Edition)
lenkte sie ab. Geräusche. Aus der Kirche. Die Nonnen sangen. Weiter. Sie durfte keine Zeit verlieren. Der erste von links. Dann der siebte. Platz schaffen für den sechsten. Rebekkas Herz klopfte wild. Unter ihrem Kopftuch bildete sich Schweiß. Der dritte, der achte, der neunte, jetzt der fünfte. Immer schneller schob sie die Steine hin und her. Es gab nur eine Möglichkeit, nur einen Versuch. Alle Steine glitten ohne Widerstand in ihre Positionen.
Jetzt musste nur noch der sechste an die richtige Stelle. Rebekka fühlte, wie der Stein einrastete, dann hörte sie ein leises Klicken, und die Tür öffnete sich einen Spalt. Glück überflutete sie, Glück und Stolz. Sie hatte es geschafft.
Ohne Mühe ließ sich die Tresortür öffnen, Licht fiel in den Hohlraum. Rebekka erstarrte, als sie sah, was darin war: nichts. Der Schrein des heiligen Wenzel war leer.
***
»Besiegelt und beurkundet zu Nürnberg, am Nikolausabend im Jahre des Herrn 1349«. Johann streute Salz über das Pergament, ließ es einen Moment wirken, dann pustete er es herunter, rollte den Vertrag zusammen und reichte ihn dem Ratsherrn, der ihm gegenübersaß. Es war Ulrich Stromer. Er galt als einer der einflussreichsten Männer in Nürnberg, der sogar bei König Karl in Prag vorsprechen durfte, wann immer er es wünschte. Für Johann und seinen Vater bedeutete der Vertrag ein hervorragendes Geschäft: Sie würden als Einzelhändler im Auftrag von Stromer auf dem Rothenburger Markt Metallwaren aus Nürnberg verkaufen. Stromer hatte kein Marktrecht in Rothenburg. Er würde die Waren auf ein Gut vor den Toren der Stadt liefern, wo die Familie von Wallhausen sie übernahm. Das Transportrisiko trug Stromer, Steuern und Kosten des Verkaufs die von Wallhausens. Für beide ergaben sich große Vorteile aus dem Geschäft: Stromer umging das Marktverbot in Rothenburg, und Johanns Familie konnte Waren in ihr Angebot aufnehmen, die sonst niemand in Rothenburg zu diesem Preis feilbieten konnte.
Stromer hatte eine lange Hakennase, kleine, listige Augen, die ständig in Bewegung waren, und graue lange Haare. Er musste an die vierzig Jahre alt sein, vielleicht auch schon älter.
Wenige Talglampen spendeten trübes Licht, Stromer schien ein sparsamer Mensch zu sein. Auch das Mahl, das er gereicht hatte, und vor allem das Bier, das er dazu offerierte, zählten bei weitem nicht zu dem Besten, was Johann gekostet hatte. Dabei musste Stromer im Geld schwimmen. Doch Johann scherte sich nicht darum. Hauptsache, der Vertrag war unter Dach und Fach. Schließlich war er nicht zu seinem Vergnügen nach Nürnberg gekommen, und es war ihm auch nicht nach Zerstreuung zumute. Deswegen hatte er auch die Einladung ins Frauenhaus dankend abgelehnt.
Er wollte wieder ins Judenviertel, wollte die Menschen dort nochmals warnen: In der ganzen Stadt rotteten sich die Bürger zusammen. Seit einem Monat war er hier. Er hatte weitere Erkundigungen eingezogen und war nun sicher, dass Rebekka von Nürnberg aus nach Prag weitergereist war. Und er hatte Gerüchte gehört, dass der König auch die Nürnberger Juden verkauft hatte. Etwas braute sich zusammen. Etwas, das noch hässlicher und barbarischer zu werden drohte als das, was zu Sankt Burkard in Rothenburg geschehen war.
Stromer nahm das Dokument entgegen und ließ es in seinem Ärmel verschwinden. Er erhob seinen Becher, der aus reinem Silber gearbeitet war – ein Symbol seines großen Reichtums, das in einem eklatanten Widerspruch stand zu dem kargen Mahl. »Johann von Wallhausen, mögen unsere Geschäfte gedeihen und sich unsere Truhen füllen.«
Gegen diesen Trinkspruch hatte Johann nichts einzuwenden. Er erhob ebenfalls seinen Becher und stieß mit Stromer an. Seine eigene Ausfertigung des Vertrages hatte er bereits unter seinem Gewand verstaut. Eine weitere Ausführung war auf dem Weg ins Rathaus.
Kurz darauf verabschiedete sich Johann.
Stromer begleitete ihn vor die Tür seines Hauses. »Grüßt Euren Vater von mir und natürlich Eure liebreizende Gattin.« Bevor Johann antworten konnte, legte Stromer eine Hand auf seine Schulter. »Und erlaubt mir einen guten Rat: Bleibt dem Judenviertel fern. Ich habe gehört, dass Ihr in den letzten Wochen des Öfteren dort gewesen seid. Mich schert das nicht, ich habe nichts gegen die Juden. Aber heute Nacht dort zu sein könnte Euch schlecht bekommen. Gott beschütze Euch, Johann von Wallhausen. Euch und Eure Familie.«
Johann fehlten die Worte. Stromer musste genau Bescheid wissen,
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