Die Rettung
wieder hinunter. Barri schloss die Tür hinter ihm.
Einen Moment blieb sie im Dunkeln stehen. Sie hätte gerne geweint, aber ihr kamen keine Tränen. Außer einer großen Leere empfand sie überhaupt nichts. Sie beschloss, wieder ins Bett zu gehen. Ein paar Stunden Schlaf würden ihr gut tun, und vielleicht war sie am nächsten Morgen im Stande, um den Mann zu trauern, mit dem sie immerhin den größten Teil ihres Lebens verbracht hatte. Langsam ging sie ins Schlafzimmer zurück und kuschelte sich wieder unter ihre Decke.
Kenneth' Schwester und ihre Söhne kamen, um ihr zu helfen, die Beerdigung in die Wege zu leiten und seine Hinterlassenschaft zu ordnen. Barri blieb seltsam unbeteiligt. Sie wurde von der Angst beherrscht, jeder könne merken, dass sie Kenneth schon lange nicht mehr geliebt hatte. So bot sie all ihre Kraft auf, um die Begräbnisfeierlichkeiten mit Würde zu überstehen, und wurde zu ihrem Erstaunen für ihre Haltung bewundert.
Kurz nach Kenneth' Beerdigung brachte Cody ihr Baby zur Welt. Barris Herz machte einen Freudensprung, als sie die kurze Notiz las, die sie auf ihrem Schreibtisch vorfand. Sie konnte das Ende ihrer Vierstundenschicht kaum erwarten, und als es endlich soweit war, kaufte sie im Geschenkshop des Krankenhauses einen mit Helium gefüllten Ballon und eilte hastig die Stufen empor, »Hallo?« Sie war nicht sicher, ob sie sich die Zimmernummer richtig gemerkt hatte, also klopfte sie kurz an, bevor sie eintrat. Der Ballon blieb am Türrahmen hängen, und sie musste ihn erst losmachen, bevor sie auf das Bett zugehen konnte.
Raymond saß am Fußende. Er stand auf und zog den Vorhang zurück. »Barri ist hier«, teilte er Cody mit.
Die junge Mutter wirkte erschöpft, lächelte aber glücklich. »Sieben Stunden«, stöhnte sie, als sie Barri sah. »Geschlagene sieben Stunden hat es gedauert. Nächstes Mal lasse ich mir ein Narkosemittel spritzen. Diese Tortur stehe ich nicht nochmal durch.«
Barri band den Ballon an dem Klapptischchen fest, bevor sie auf dem Stuhl für Besucher Platz nahm. Cody schlug die Decke zurück, um ihr den Kleinen zu zeigen. Barri betrachtete ihn mit gemischten Gefühlen. Der Anblick brachte ihr schmerz-liehe Erinnerungen an Dylan zurück und ließ sie an die Enkel denken, die sie nie haben würde. Trotzdem beschloss sie, sich mit Cody zu freuen. Sacht strich sie dem Baby über den Kopf. »Er wird Raymond einmal sehr ähnlich sehen.«
Cody kicherte. »Alle Babys sehen entweder wie Winston Churchill oder Mahatma Gandhi aus. Er ist ein Gandhi.«
Raymond grinste breit. Er schien vor Stolz geradezu zu platzen. »Wartet nur ab! Wenn er größer ist, kommt er ganz nach dem Papa.« Barri hatte ihn noch nie so aufgeräumt erlebt; Raymond war kein Mensch, der seine Gefühle offen zeigen konnte. Er setzte sich wieder auf die Bettkante und ließ Mutter und Sohn nicht aus den Augen.
»Wir wollen ihn Dylan nennen«, erklärte Cody. »Ich hoffe, das stört Sie nicht, Mrs. Matheson.«
»Oh.« Wieder schlug eine Welle widersprüchlicher Emotionen über Barri zusammen. Sie legte rasch eine Hand vor den Mund, und ihre Wangen färbten sich rosig. »Oh, das ist ja wundervoll. Vielen Dank, Cody.«
Die Tür wurde geöffnet, und Nathan Bartleby steckte den Kopf in das Zimmer. »Ah, da bist du ja. Das Sinfoniekonzert findet am zwölften statt.«
Barri überprüfte im Geiste ihren Terminkalender, der immer noch beklagenswert viele leere Seiten aufwies, dann nickte sie: »Ja, das lässt sich machen.«
Er lächelte. »Wunderbar. Ich hole dich um fünf Uhr ab, dann können wir vorher noch eine Kleinigkeit essen gehen.«
»Hört sich gut an.«
Nathan nickte, winkte Cody und Raymond flüchtig zu und verließ den Raum.
Cody machte große Augen. »Sieh mal einer an. Sie treffen sich mit einem Arzt?«
Barri nickte eifrig. »O ja. Nathan ist so lieb und aufmerksam. Ich hatte gedacht, Männer wie ihn gäbe es nur im Film.«
»Nim, ich denke, eine große Vergleichsbasis hatten Sie ja bislang nicht.«
»Nein.« Barri schüttelte betrübt den Kopf. »Ich fürchte, da hast du Recht.«
Raymond sah mit einem unwilligen Grunzen auf seine Uhr. »Ich muss los. Diese verdammte Besprechung ...«
»Schon in Ordnung. Du hast ja dein Handy dabei. Wenn was ist, rufe ich an. Hast du wenigstens noch Zeit, vorher nach Hause zu fahren und zu duschen?«
Raymond nickte, erhob sich, gab seiner Frau einen Kuss und strich seinem Sohn über das flaumige Köpfchen. »Ich komme so schnell wie möglich
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