Die Rettung
Ciaran glaubte, er wolle auf die Jagd gehen. »Wann kann ich denn mitkommen, Pa?«
»Wenn du groß genug bist, um einen Bogen zu spannen.« Zwar benutzten die Männer aus dem Tal zur Jagd gelegentlich auch Schusswaffen, aber da Pulver und Kugeln teuer waren und man die Waffe nach jedem Schuss neu laden musste, waren Spieße sowie Pfeil und Bogen wesentlich beliebter.
»Wenn du einen Hirsch erlegst, schnitzt du mir dann aus seinem Geweih einen Dolch?«
»Dazu bist du jetzt noch zu klein, Ciaran. Aber in ein paar Jahren mache ich dir einen schönen kleinen Dolch mit einer Klinge aus Toledostahl, das verspreche ich dir.« Ciaran strahlte bei der Aussicht, irgendwann einmal einen eigenen Dolch zu besitzen. Dylan hätte ihm gerne versprochen, dass er ihm etwas Schönes mitbringen werde, aber er wusste, dass er froh sein konnte, wenn er nur selbst mit heiler Haut nach Hause zurückkehrte.
Tief in seinem Inneren schämte er sich dafür, dass er seinen Kindern einen Haufen Lügen auftischte. Trotzdem hielt er es für besser, sie in dem Glauben zu lassen, er ginge auf die Hirschjagd, als ihnen die Wahrheit zu sagen. Zumindest Ciaran würde dann in ständiger Angst leben, sein Vater könne von den Rotröcken erschossen werden. Er gab beiden einen Kuss und hob sie dann wieder vom Tisch herunter, damit sie mit den anderen Kindern in der großen Halle spielen konnten.
Die meisten Bewohner der Burg hatten sich bereits zum Abendessen eingefunden. Dylan sah Iain Mór mit einem Humpen Ale in der Hand neben dem Kamin sitzen. Das bedeutete, dass er sich kurz in das Arbeitszimmer des Lairds schleichen konnte. Ausgezeichnet.
Unauffällig verließ er die Halle und eilte den Gang zum Nordturm entlang. Niemand begegnete ihm; vermutlich saßen alle entweder beim Essen oder waren in der Küche beschäftigt. Viel Zeit hatte er nicht, aber vielleicht reichte sie ja aus, um kurz mit Sinann zu reden, falls sie just in diesem Moment durch den Gobelin in den Raum spähte.
Der schmale, gewundene Gang lag im Dunkeln, doch aus Iains Zimmer drang ein schwacher Lichtschein. Die Tür war nur angelehnt. Dylan runzelte die Stirn. Hoffentlich war Malcolm dort drinnen. Der alte Mann würde ihn sicher ein paar Minuten allein lassen, er vertraute Dylan bedingungslos. Behutsam stieß er die Tür ein Stück weiter auf.
Durch den Spalt konnte er den Gobelin an der gegenüberliegenden Wand sehen. Sinann beobachtete den Raum, das sah er daran, dass ihr Ebenbild auf und ab hüpfte, die Flügel bewegte und mit den Armen fuchtelte, um seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Leider konnte er nicht hören, was sie sagte. Also schob er die Tür weiter auf und betrat den Arbeitsraum.
Artair saß an Iains Schreibtisch und blätterte ein dickes ledergebundenes Buch Seite für Seite durch. Offensichtlich suchte er fieberhaft nach etwas. Als er aufblickte und Dylan sah, wurde er blass. Dylan nahm an, dass er die Besitzübertragungsurkunde gesucht hatte. Was er mit den Papieren anfangen wollte, war ihm allerdings schleierhaft. Iain hatte doch schon deutlich gemacht, dass er Artair als seinen Nachfolger bevorzugte, sonst hätte er Dylan die Männer in den Kampf führen lassen.
Dylan blickte noch einmal zu dem Gobelin hinüber. Sinann stemmte jetzt die Hände in die Hüften. Ein angewiderter Ausdruck lag auf ihrem Gesicht. Dann wandte er sich an Artair. »Suchst du etwas Bestimmtes?«
»Ich ... äh ...« Dylan sah ihm an, dass er sich das Gehirn zermarterte, um möglichst rasch eine glaubhafte Lüge zu erfinden. »Ich suche die Unterlagen über den Viehverkauf an die Garnison.«
So ein Unsinn. Wenn er wenigstens genug Verstand gehabt hätte, sich etwas auszudenken, das mit dem Buch auf dem Tisch zu tun hatte! Dylan deutete auf die Regale hinter Artairs Stuhl und sagte in einem Ton, der deutlich besagte, dass er sich nicht täuschen ließ: »Da solltest du lieber einen Blick in das Kontobuch. von diesem Jahr werfen. Das, was da vor dir liegt, ist ja uralt.« Wenn Artair wirklich glaubte, Iain hätte die Papiere wieder in ihr altes Versteck zurückgelegt, musste er noch dümmer sein, als er aussah.
Artair tat so, als bemerke er erst jetzt, dass er das falsche Buch vor sich liegen hatte, schüttelte den Kopf und stellte den Band wieder in das Regal zurück. Dann drehte er sich zu Dylan um. »Kann ich irgendetwas für dich tun?«
Wieder blickte Dylan zu dem Gobelin hinüber. Sinann hatte eine Hand um den Mund gelegt, als wolle sie ihm etwas zurufen. Ihre Lippen
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