Die Richter des Königs (German Edition)
verlieren, den einzigen Menschen, der für sie so etwas wie eine Familie verkörperte. Nach dem Tod ihres Vaters, wodurch sie eine Waise geworden war, hatte Jeremy Blackshaw einen besonderen Platz in ihrem Herzen eingenommen. Auch wenn keine Blutsverwandtschaft zwischen ihnen bestand, hatte ihn doch keiner ihrer französischen Verwandten, zu denen er sie damals gebracht hatte, jemals von diesem Platz verdrängen können. Die schreckliche Ahnung, dass ihm der Tod sicher war, wenn er hier in London blieb, begann immer schmerzhafter an ihr zu nagen. Sie musste ihn zur Vernunft bringen, ihn überzeugen, sie und den Hof in die Sicherheit eines Ortes zu begleiten, der frei von der Seuche war.
Während sich Amoret in Gedanken Argumente zurechtlegte, die seine Meinung ändern könnten, gab sie Helen die Anweisung, in die Palastküche zu gehen und etwas zu essen zusammenzustellen. Wenn Pater Blackshaw aufwachte, würde er sicher hungrig sein. Um ihn nicht zu stören, setzte sich Amoret mit einem Buch in einem Armlehnstuhl zurecht und begann zu lesen.
Als Jeremy zwei Stunden später erwachte, wartete bereits eine kleine Mahlzeit auf ihn. Mit einem amüsierten Lächeln setzte er sich zu Amoret an den Tisch und nahm zuerst einen kräftigen Schluck von dem Tee, der auf einer Wärmepfanne aus Messing bereitstand.
»Gebt zu, Ihr fühlt Euch besser«, neckte sie ihn.
Er war nicht zu stolz, es einzugestehen. »Oft spüre ich nicht einmal, wie müde oder hungrig ich bin, Madam. Der Anblick des Leidens und des Todes überlagert alles.«
»Pater, ich bitte Euch noch einmal, mit mir die Stadt zu verlassen. Hier erwartet Euch der sichere Tod! Nein, es hat keinen Zweck, mir etwas vorzumachen. Auch hier in Whitehall werden die Totenlisten gelesen. Die Seuche springt wie ein Lauffeuer von einem Menschen zum anderen. Es ist ein Wunder, dass Ihr Euch noch nicht angesteckt habt. Aber sicher ist es nur eine Frage der Zeit.«
»Mylady, macht Euch nicht so viele Gedanken um einen alten Asketen«, wehrte Jeremy mit einem spöttischen Lächeln ab, in dem Bemühen, ihre Sorge zu zerstreuen.
»Ich will Euch nicht verlieren!«, rief sie plötzlich schrill. Ihre Hände ballten sich zu Fäusten. »Ich bin Euch nicht nach England gefolgt, um untätig zuzusehen, wie Ihr Euer Leben sinnlos opfert.«
Jeremy sah sie mit einer Mischung aus Erstaunen und Unglauben an. »Was meint Ihr damit, Ihr seid mir nach England gefolgt?«
Amorets Erregung erlaubte ihr nicht, länger stillzusitzen. Ruckartig erhob sie sich und begann vor ihm auf und ab zu gehen.
»Ihr wart stets mehr für mich als ein verlässlicher Freund«, bekannte sie. »Ihr wart ein Ersatz für die Familie, die ich nie hatte, Vater und älterer Bruder zugleich. Wie sehr vermisste ich Euch, als Ihr mich bei meinen französischen Verwandten abgeliefert hattet. Für sie war ich nur eine Bürde, ein Mädchen ohne Besitz, die Tochter einer unehelichen Cousine, die man an einen Engländer verheiratet hatte. Man ließ mich nur an den französischen Hof gehen, weil ich schön war und man hoffte, ich würde trotz der bescheidenen Mitgift, mit der man mich ausgestattet hatte, eine gute Partie machen. Als ich Euch dort wiedersah, war ich überglücklich. Doch als Ihr mir erzähltet, dass Ihr auf dem Weg nach England seid, um dort als Missionar zu arbeiten, verwünschte ich Euren Leichtsinn. Ihr wolltet Euch in ein Land begeben, in dem Ihr allein aufgrund Eures Priesterstandes hingerichtet werden konntet. Ich hatte Angst um Euch. Und als die Königin-Mutter Henrietta Maria ihren nächsten Besuch in England plante, bat ich König Louis um Erlaubnis, sie begleiten zu dürfen. Ich wollte in Eurer Nähe sein und über Euch wachen. Und jetzt setzt Ihr Euch einer Gefahr aus, vor der ich Euch nicht schützen kann.«
Jeremy hatte diesem leidenschaftlichen Ausbruch schweigend gelauscht. Sicher, er hatte gewusst, dass sie ihm eine besondere Freundschaft entgegenbrachte, aber eine so tiefe Zuneigung hatte er hinter ihrer ein wenig despotischen Aufmerksamkeit nicht vermutet. Die Erkenntnis, wie wichtig er ihr war, rührte ihn, denn er hatte selbst kein enges Verhältnis zu seiner Familie. Schon früh hatte er das elterliche Gut verlassen, zuerst, um als Feldscher über die Schlachtfelder zu ziehen, und später, um auf dem Kontinent zu studieren und als Missionar zu arbeiten. Auch wenn er seine Unabhängigkeit schätzte, tat es ihm wohl, sich geliebt zu fühlen, besonders jetzt, da er sich wie ein Versager
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