Die Richter des Königs (German Edition)
entkommen. In den schmutzigen Gassen begegnete man nur noch Ratten. Zwar bemühte man sich, der Nagetiere mit Rattenpulver Herr zu werden, aber es waren einfach zu viele. In ganz London sei kein Arsenik mehr zu bekommen, hieß es. Ihrer natürlichen Feinde beraubt, schienen die Ratten zuweilen wie von Übermut gepackt am helllichten Tag auf den Misthaufen zu tanzen, torkelnd und ohne Anzeichen von Scheu, wie berauscht von einer seltsamen Trunkenheit, nur um schließlich grausig zu verenden. Vielleicht starben auch sie an der Pest wie ihre leidenden menschlichen Nachbarn.
Die lähmende Stille der Nacht wurde plötzlich von dem Geräusch knarrender Wagenräder unterbrochen. Eisenummantelte Felgen knirschten über den trockenen Boden und wirbelten dichte Staubwolken auf, denn es hatte seit Wochen nicht mehr geregnet, und die Stadt lag dürstend in der sommerlichen Hitze. Der Lärm des sich nähernden Gefährts verursachte Jeremy eine Gänsehaut. Schaudernd blieb er stehen und wandte sich um. Es war einer der Leichenkarren, die allnächtlich durch London fuhren, um die Pesttoten einzusammeln und zu den Massengräbern außerhalb der Stadt zu bringen. Der Ruf der Pestknechte schallte eintönig zu Jeremy herüber: »Bringt Eure Toten heraus!« Er sah den von einer mitgeführten Fackel erhellten, zweirädrigen Karren, der von einem einzelnen Pferd gezogen wurde, vor einem Haus halten, das mit einem roten Kreuz markiert war. Die Köpfe der beiden Siechknechte waren von dichtem Tabakrauch aus ihren Tonpfeifen umhüllt, in der Hand hielten sie rote Stäbe, ähnlich dem weißen, den Jeremy trug. Wie gebannt beobachtete der Priester, wie die Männer das befallene Haus betraten und eine Leiche heraustrugen. Ohne Zeremoniell warfen sie den toten Körper auf die Ladefläche des Karrens zu den anderen, die sich bereits hoch übereinander stapelten. Der Leichnam landete oben auf dem Haufen und rollte auf der anderen Seite gleich wieder hinunter. Unter den Flüchen der Pestknechte prallte er mit einem dumpfen Laut auf dem Boden auf. Im Hauseingang schrie eine Frau und begann kurz darauf zu schluchzen. Jeremy konnte sich nicht von dem Schauspiel losreißen, obgleich er fast jede Nacht Zeuge ähnlicher Szenen war. Es brach ihm das Herz.
Der Totenkarren setzte sich wieder in Bewegung und ratterte kurz darauf an Jeremy vorüber. Flüchtig sah er, wie die Pestknechte die Kleider des Leichnams durchsuchten und sich schließlich daranmachten, sie ihm auszuziehen. Für sie, die aus den Reihen der Ärmsten stammten, bedeutete der Verkauf der Kleidungsstücke, ja selbst der Leichentücher, einen erklecklichen Nebenverdienst.
In stummem Grauen blickte Jeremy dem Leichenkarren hinterher, bis dieser um eine Ecke bog und aus seinem Blickfeld verschwand. Wie jeder Londoner, der das Pech hatte, dem unglückseligen Gefährt des Nachts über den Weg zu laufen, fragte sich auch der Jesuit mit einem flauen Gefühl im Magen, wann die Reihe an ihm sein würde, seinen Platz auf der Ladefläche einzunehmen. Der Gedanke presste ihm die Brust zusammen und ließ Übelkeit in seinem Innern aufsteigen. Nach Atem ringend, musste er sich einige Minuten mit der Hand an der Hauswand abstützen, bis das Schwächegefühl nachließ und er wieder Luft bekam. Er wusste, es war ein Anfall von Angst, nicht Erschöpfung, der ihn gelähmt hatte, eine tiefe, stetig wachsende Angst, nicht vor dem Tod an sich, sondern vor den furchtbaren Qualen, die das Sterben eines Pestkranken begleiteten, das Delirium, die Schmerzen, der Verfall des Körpers, wie er sie unzählige Male mit angesehen hatte. Es war ein grauenhafter Tod!
Mühsam einen Fuß vor den anderen setzend, auf den weißen Stab gestützt, ging Jeremy weiter. Doch das Gefühl der Beklemmung ließ nicht nach. Irgendetwas trieb sein Herz zu schnelleren unregelmäßigen Schlägen.
Plötzlich alarmiert fuhr Jeremy herum, doch da war es bereits zu spät. Ein unbarmherziger Schlag, der ihn hatte töten sollen, glitt von seinem Hinterkopf ab und traf sein Genick. Seine Beine knickten kraftlos unter ihm weg, doch er blieb bei Bewusstsein. Während er fiel, riss er in einem Reflex den rechten Arm hoch, um seinen Kopf zu schützen. Der zweite Hieb erschütterte seinen Unterarm und sandte einen rasenden Schmerz bis in seine Schulter hinauf. Ohne es zu sehen, wusste Jeremy, dass der Angreifer erneut ausholte und dass er nicht einhalten würde, bis er ihn totgeprügelt hatte. Unfähig, sich zu wehren, versuchte er, sich zur Seite
Weitere Kostenlose Bücher