Die Ringe der Macht
hatte den Eindruck, dass er den Mann kennen sollte …
Er wiederholte seine Antwort, diesmal lauter.
»Wenn Ihr mich küsst, Himberon, bekommt Ihr die Pike zu spüren«, drohte der Alte sofort. »Ich will nur wissen, wie Ihr heißt und woher Ihr kommt und wohin Ihr wollt.«
»Ich will euch nicht küssen …«, begann Kim.
»Was heißt das, Ihr werdet das nicht müssen? Ich, Ohm Hinner Penning, Altwebel der Ffolkswehr auf Erkundung, habe das Recht, das von Euch zu fordern. Erst recht, wenn Ihr in Begleitung dieses Großen da seid. Fremdartiges Gesindel ist nicht erwünscht!«
»Hört mich doch an, guter Mann!«, brüllte Kim. »Ich bin Kimberon Veit vom Ffolksmuseum aus Aldswick.«
»Nein, wenn Krieg ist, kann ich nicht«, antwortete der Bauer.
Kim verzweifelte schier.
Ohm Hinners Schwerhörigkeit war in ganz Elderland bekannt seit jener legendären Wolfsjagd im letzten Winter, wo er frierend und triefend im Graben gesessen hatte, in den er trotz einer lautstarken Warnung gefallen war. Und ausgerechnet er war der erste Ffolksmann, den sie trafen!
Fabian konnte sich trotz ihrer ernsten Lage ein Lächeln nicht verkneifen.
Kim mühte sich eine Weile ab, bis der alte Ohm endlich verstanden hatte, wer da vor ihm stand.
»Ach, Ihr seid immer zu Scherzen aufgelegt«, sagte Ohm Hinner. »Warum sagt Ihr nicht gleich, wer Ihr seid?«
»Wie stehen die Dinge?«, fragte Kim so laut er konnte, hoffend, dass Ohm Hinner wenigstens versuchte, ihn zu verstehen.
»Was für Ringe?«, antwortete der Alte.
Es war zum Aus-der-Haut-Fahren, fand Kim und verdrehte verzweifelt die Augen. Fabian täuschte ein Hüsteln vor, um sein immer breiter werdendes Grinsen hinter der Hand verbergen zu können.
»Nein, ich wollte wissen, was vorgeht in Elderland. Was ist in der letzten Woche hier passiert?«
»Rasiert? Ja, Euer Freund ist völlig unrasiert, und es wäre gut, wenn er sich mal das Gesicht schaben würde. Er sieht aus wie ein Landstreicher.«
»Der ist ja stocktaub!« Kim schäumte fast. »Der alte Greis …«
»O ja, ihr wart verreist, ich habe davon gehört«, sagte Ohm Hinner.
Kim wollte aufgeben und mit Fabian den Weg Richtung Norden fortsetzen. Es hatte keinen Zweck, aus dem stocktauben Alten war ohnehin nichts herauszubringen.
»Aber Jungchen, Ihr tragt doch die Verantwortung«, sagte Ohm Hinner unvermittelt. »Jetzt, da der alte Magister nicht mehr lebt.«
Die Nachricht traf Kim wie ein Schlag in die Magengrube.
»Magister Adrion … ist tot?«
»Ja, Ihr seid jetzt der einzige Kustos. Magister Adrion ist auf der Schwelle des Hauses am Museum niedergestochen worden. Aber Ihr seid noch am Leben …«
Kim hörte gar nicht mehr richtig zu. Magister Adrion … niedergestochen , hallte es in seinem Kopf wider. Sein Ziehvater, sein Lehrer, sein Freund …
Irgendwie hatte er es die ganze Zeit gewusst. Die Stimme in seinem Innern, die Erscheinung an der Brücke beim Kampf mit Azanthul und den Bolgs – das war der Geist seines Mentors gewesen, nicht der Magister selbst. Und dennoch hatte er die bittere Wahrheit nicht sehen wollen, die dunkle Ahnung verdrängt.
»Adrion Lerch ist tot?« Er konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten, die ihm die Wangen hinunterliefen.
Fabian legte ihm seine Hand auf die Schulter und versuchte ihm Trost zuzusprechen. Die Worte erreichten wohl noch Kims Ohren, aber nicht mehr seine Seele. Nun war auch sein zweiter Vater gestorben, und in Kim war alles wie taub. Dies war ein Schlag mit der Axt, der ihn an der Wurzel seines Seins getroffen hatte.
»… dem Pastor haben sie seine Kirk über dem Kopf angezündet, und die alte Godin hat der Schlag getroffen. Und der Bürgermeister von Aldswick ist auch gefallen.« Dies waren die ersten Worte des Ohm, die wieder in Kims Bewusstsein drangen, als seine Tränen längst getrocknet waren.
Gleichzeitig wurde Kim klar, dass der Juncker und er die einzigen waren, die vom Rat von Elderland noch übriggeblieben waren. Und plötzlich, wie damals, als er den Entschluss fasste, mit den Gefährten auf die Wanderschaft zu gehen, spürte er etwas in sich aufwallen, eine Kraft, die sich aus einer Quelle speiste, von der er nicht einmal gewusst hatte, dass es sie gab. Es blieb ihm wie nach dem Tode der Eltern keine Zeit, zu trauern und zu leiden. Er war nicht irgendein Ffolksmann, sondern er war der Kustos, Mitglied des Rates von Elderland. Und der letzte Dienst, den er Magister Adrion erweisen konnte, war, dass er dieser Würde gerecht zu werden versuchte. Er
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