Die Ringe der Macht
Hüter der Vergangenheit auf der Schwelle des Hauses …
K APITEL III
ZWISCHEN FEUER UND WASSER
Regenschwer, kaum zu unterscheiden von dem dunklen Nachthimmel, hingen die Wolken über dem Land und hüllten die Welt in einen alles erstickenden Mantel. Doch keiner der Wanderer hatte Zeit, den Himmel nach Sternen abzusuchen. Kim, der in verwegenen Momenten mit dem Gedanken an solch abenteuerliche Wanderungen gespielt hatte, musste erkennen, dass es zwischen Traum und Wirklichkeit einen gewaltigen Unterschied gab. War die Welt in seinen Träumen immer von Sonnenschein erfüllt gewesen oder, durchzogen von einer linden Brise, vom Licht der Elbensterne unter einem klaren Himmel, so sah die Wirklichkeit ganz anders aus. Das nasskalte Wetter weckte in ihm die Sehnsucht nach einem warmen Kaminfeuer. In jedem seiner klammen Glieder spürte er den Herbst, der immer näher rückte.
Überhaupt fragte sich Kim, was er eigentlich zu dieser Stunde hier draußen zu suchen hatte. Er hatte verkündet, sein Amt als Kustos erfordere es, die Interessen des Ffolks am Hofe zu vertreten, aber er wusste, dieser Grund war nur vorgeschoben. Etwas in ihm hatte sich nach einem solchen Abenteuer gesehnt, und als sich die Gelegenheit ergab, hatte er sie beim Schopfe gepackt.
»Vorsicht«, warnte Marina. »Schritte von genagelten Stiefeln.«
»Belegim!« entfuhr es Gilfalas, und er sog den Atem zischend ein.
»Bolgs!«
Vorbei an den großen Lagerhallen, deren gemauerte Sockel wie Festungswälle aus einer anderen Zeit neben ihnen aufragten, bis sie sich in den helleren Feldern von Fachwerk und einem Gewirr von Balken, Flaschenzügen und Hebekränen verloren, führte Marina sie schnell in die Deckung einer Laderampe vor einem der großen Bootshäuser. Ursprünglich war es ihre Absicht gewesen, mit einem der kleinen Kähne, die den Mitgliedern des Rates zur Verfügung standen, den Anderfluss zum Südufer zu überqueren, um von dort an Winder vorbei einen Weg in die Sümpfe zu suchen. Doch angesichts der Tatsache, dass die Kreaturen der Dunkelelben schon vor den Toren von Aldswick standen, war dieser Plan bereits jetzt zum Scheitern verurteilt.
Inzwischen hörte auch Kim die Tritte auf der Straße. Sie kamen immer näher. Der junge Ffolksmann glaubte, das Herz müsse ihm stehenbleiben. Ihm war, als würden die Bolgs direkt auf ihn zukommen, als suchten sie nur ihn. Kim hielt den Atem an. Die Luft unter der Rampe erschien ihm seltsam stickig, und er begann zu zittern.
In diesem Moment fühlte er Burins Hand auf seiner Schulter. Der Zwerg hatte gespürt, dass Kim die Angst zu übermannen drohte, und mit dieser einfachen Geste bedeutete er ihm, dass er nicht allein war. Tief atmete der Ffolksmann durch. Es war gut zu wissen, dass man Freunde besaß.
Gespannt warteten sie, aber die Schritte hielten nicht an oder kamen in ihre Richtung, sondern verklangen in der Nacht.
»Sie gehen zu den Stadttoren. Schnell, hier entlang!«, sagte Marina leise, aber bestimmt.
Die anderen folgten ihr wortlos. Kim erkannte, dass Marina sie in Richtung des Angers führte. Der Anger war ein einstmals sumpfiges Gelände, das vor hundert Jahren von Torsten Broich, dem Großvater des jetztigen Bürgermeisters von Aldswick, aufgeforstet und mit Hügeln und Wegen zu einem Park gestaltet worden war. Denn so sehr die Ffolksleute ein Feuerwerk zum Fest liebten, wollte doch niemand riskieren, dass die Stadt durch niedergehende Raketen in Brand geriet. So hatten die Bürger mit Unterstützung der Kaufmannsgilde den Park anlegen lassen, um das herbstliche Lampionfest nicht auf offenem öden Feld feiern zu müssen. Plötzlich wurde Kim bewusst, dass nun das Fest durch die Invasion der Dunkelelben und ihrer Kreaturen in Gefahr war. Und würde man im nächsten Jahr unter der großen Linde den Mittsommernachtstanz abhalten, wie es seit Jahrhunderten Brauch war? Kim hatte das Gefühl, dass sich vieles zu verändern begonnen hatte, und manches würde nie wieder sein, wie es einmal war.
Im Dunkeln sah der Anger aus wie ein echter Wald, außer dass die Bäume ein wenig zu gerade gepflanzt und die Büsche ein bisschen zu gut gepflegt waren. Auch das Unterholz war eine Spur weniger verwuchert, als dies in einem natürlichen Wald der Fall gewesen wäre. Im Anger gab es zum Fluss hin einige verschwiegene Buchten, von denen aus das Feuerwerk entzündet wurde. Vielleicht, so dachte sich Kim, hoffte Marina da ein Boot zu finden …
Der Hüterin von Kims Herd vermied es, die öffentlichen
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