Die Ringe der Macht
ansehen zu müssen, wie aus dem wirbelnden Nichts seine ureigensten Ängste Gestalt annahmen. Doch seine Lider gehorchten ihm nicht mehr. Oder machte es keinen Unterschied mehr, ob er wachte oder träumte?
Schärfer wurden die Konturen, deutlicher die Umrisse; das Bild vor ihm gewann an Klarheit. Ein Kopf bildete sich heraus. Die Augen waren zuerst da. Der Elbe konnte dem stechenden, abgrundtief bösen Blick dieser Augen kaum standhalten, weil er darin sich selbst sah wie in einem dunklen Teich. Dann entstanden die spitzen Ohren, das blonde Haar, das edel geschnittene Gesicht, um dessen feinen Mund ein zynisches Grinsen spielte.
»Elei, Gilfalas«, schien ihm sein siebenfaches Gegenüber zu sagen. »Wie gefalle ich dir?«
»Fort!«, wollte Gilfalas rufen. »Du bist nicht wirklich, nur ein Trugbild«, doch er brachte keinen Ton heraus.
»Aber Gilfalas«, höhnisch verzogen sich sieben Münder, »das ist nicht nett. Wir sind du …«
»Nein, das seid ihr nicht«, wollte ihnen der Elbe entgegenschleudern, aber er besaß keine Worte mehr, keine Stimme, um zu reden.
»O doch. Wir sind deine dunkle Seite; wir sind das, was du immer verleugnest, was du hinter Edelmut und guten Taten verbirgst. Wir sind dein finsterer Bruder. Wir sind das, was du am meisten fürchtest. Wir sind der Schatten deiner selbst!«
»Nein!«, wollte es aus Gilfalas herausbrechen. »Wir Elben wurden zum Licht erweckt, kein dunkler Gedanke wirft einen Schatten auf unsere reinen Seelen!«, aber er konnte nur verzweifelt auf die nahezu vollendeten Kreaturen vor ihm blicken, die aus ihm selbst heraus entstanden waren.
Aus ihm! Das Böse war in ihm. Er hatte es all die Jahre gefürchtet, aber nie wahrhaben wollen …
»Doch, Gilfalas«, flüsterten triumphierend seine sieben Gegenüber, »wir waren in dir, wir sind in dir, und wir werden immer in dir sein.«
Sie kamen näher. Der Wahnsinn streckte seine kalten Finger nach ihm aus. Das Heulen setzte wieder ein, lauter denn zuvor, und Gilfalas schrie vor Entsetzen; ja, er konnte schreien. Doch der Strudel verschluckte seinen Schrei, kaum dass er ihn ausgestoßen hatte.
Immer noch fiel er. Gab es denn kein Ende dieser Qual? Würde er endlos so weiter fallen, in die Dunkelheit hinein, auf ewig verdammt, am Leben zu bleiben? Oder war dies schon das Reich des Todes, von dem nichts in den Legenden der Eloai überliefert war?
›Du wirst dem Schatten nicht entkommen‹, erklang die Stimme Azanthuls in seiner Erinnerung. ›Denke an mich, wenn das Licht verlöscht.‹
In dem Teil seines Geistes, der noch nicht von Wahn, Angst und Zorn geblendet war, begann eine Erkenntnis zu reifen, die jeder Elbe, den er kannte, eingeschlossen seiner selbst, stets verleugnet hatte: In jedem seines Volkes schlummerte ein dunkles Ich. Das Böse war auch in ihnen, ebenso wie das Gute im Bösen zu finden sein musste.
Diese Erfahrung hatten die Elben schon einmal vor langer Zeit machen müssen, als sie einst in die Mittelwelt gekommen waren. Da brach das Böse in ihnen sich Bahn, beherrschte viele von ihnen. Es entstanden ihre dunklen Brüder, die Dunkelelben, die getrieben von Machtgier und Ichsucht ihre dunkle Seite nicht mehr beherrschten.
Die Elben der Mittelreiche hatten nicht lange gebraucht, um dies zu verdrängen, hatten sich als Vertreter des reinen Lichts gesehen. Die Dunkelelben wurden zwar die Dunklen Brüder genannt, aber das Böse sollte, so die gängige Erklärung, von Azrathoth, dem Fürsten der Finsternis, gekommen sein, der viele Elben verführt hatte. Das war eine zu einfache Erklärung, wie Gilfalas jetzt erkannte. All die Fehler, die auch er selbst gemacht hatte, standen nun klar vor ihm.
Gut und Böse waren zwei Seiten einer Münze; und die Taten waren es, ob im großen oder kleinen, die jemanden zu der einen oder anderen Seite zählen ließen. Solange es Gilfalas gelang, das Böse in ihm selbst im Zaum zu halten, war er das, was er war: ein Elbe.
Im Augenblick dieser Erkenntnis schwand seine Angst, und mit der Furcht schwand sein siebenfaches Spiegelbild. Die Schattenhunde verloren ihre Konturen und wurden wieder zu flimmernder Luft. Der Elbe spürte, wie seine Gegner ihre Anstrengungen verdoppelten und lauter und anhaltender heulten als zuvor. Fast verzweifelt und klagend klang es, aber sie wurden wieder das, was sie waren: Schatten.
Dann öffnete Gilfalas seinen Geist und – er wusste selbst nicht wie – begann, die Schatten in sich aufzusaugen, sie in sich aufzunehmen wie ein Schwamm das
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