Die Ritter des Nordens
Ich wusste nicht mehr, was ich tun sollte, und so bin ich – und heute schäme ich mich dafür – einfach weggelaufen und habe gebettelt, bis ich irgendwann nach Earnford gekommen bin. Der damalige Steward hatte Mitleid mit mir und gab mir eine Arbeit im Stall. Den Rest kennt Ihr ja.«
Ædda war immer schon ein ernster Mann gewesen, ein Einzelgänger, der nur selten einmal lächelte. Deshalb hatte ich schon länger vermutet, dass er etwas Schlimmes erlebt haben musste. Auch hatte er im Gegensatz zu den übrigen Dorfbewohnern weder in Earnford noch auf einem der umliegenden Güter Verwandte. Jetzt endlich kannte ich den Grund.
»Das tut mir aufrichtig leid«, sagte ich, obwohl mir klar war, dass das wie eine Floskel klang. Trotzdem wusste ich nichts Passenderes zu sagen.
Er nickte und wischte sich eine Träne von der Wange. »Ich bin nicht wie Ihr, Mylord«, sagte er, und seine Stimme klang plötzlich ganz schwach. »Ich bin nicht auf Abenteuer aus, und ich habe auch kein Verlangen nach Reichtum und Ruhm. In Eurem Leben spielt das Schwert die wichtigste Rolle. Mir dagegen reicht es, wenn ich mich um die Pferde kümmern kann, mehr brauche ich nicht.«
»Ich verstehe.«
Doch er schien gar nicht zu hören, was ich sagte, sondern fuhr fort: »Als die Waliser vor ein paar Monaten wieder hier aufgetaucht sind, habe ich zwar ein paar von ihnen erschlagen, aber nur weil sie mehrere Männer getötet hatten, die mir nahestanden. Und genau deshalb reite ich auch jetzt wieder mit Euch. Wenn die Zeit gekommen ist, werde ich an Eurer Seite gegen Eure Feinde kämpfen und sie in den Tod schicken, weil die Gerechtigkeit es so verlangt. Aber Freude werde ich gewiss nicht daran haben.«
Er wandte sich mir zu und sah mich mit einem erbitterten und aufgewühlten Blick an. So gesprächig hatte ich den Engländer bis dahin noch nie erlebt, und ich brauchte eine Weile, um seine Worte zu verarbeiten.
Der Mann wusste so gut wie ich, was es bedeutete, im Gefecht zu stehen und anderen Männern die Klinge in den Leib zu stoßen. Aber damit hörten die Gemeinsamkeiten zwischen uns auch schon wieder auf, denn er hatte dies alles nur aus Pflichtgefühl getan. Ich dagegen hatte seit meinem vierzehnten Jahr immer nur davon geträumt, für einen Gefolgsherrn in den Kampf zu ziehen und Ruhm zu erwerben. So viele meiner Freunde waren in den vergangenen Monaten gefallen, trotzdem träumte ich immer noch von diesem Ruhm, und das, obwohl ich sehr gut wusste, wie leicht es mich selbst hätte treffen können. Trotzdem war die Kampflust schon wieder in mir erwacht, der unbändige Drang, mich mit erhobenem Schwert und dem Schild vor der Brust ins Gefecht zu stürzen und möglichst viele Feinde zu töten. Dieser Instinkt war einfach Bestandteil meiner Natur, ich konnte ihn nicht kontrollieren oder abschütteln. Ja, er war so sehr ein Teil von mir wie mein Herz, mein Kopf oder mein Magen. Wenn man ihn mir hätte nehmen wollen, hätte man mich zuvor umbringen müssen.
Allerdings hatte ich diesem Impuls in den vergangenen Monaten so oft nachgegeben, dass ich mich darüber selbst aus den Augen verloren hatte. Wann das genau geschehen war, wusste ich zwar selbst nicht mehr, aber irgendwann war mir mein legendärer Ruf zu Kopf gestiegen. Ich war überheblich geworden, hatte mich über die Ratschläge meiner Freunde und Kameraden hinweggesetzt und genau das getan, was ich eigentlich nie tun wollte und was ich an anderen verachtete: Ich hatte mich in meinem neu erworbenen Ruhm gesonnt, den Geschichten gelauscht, die andere über meine Heldentaten erzählten und dazudichteten, bis ich am Ende selbst an die Mythen über mich glaubte und die Warhheit darüber vergaß. So weit hatte ich es also kommen lassen. Und so hatte ich alles verloren. Leofruns Tod und der Untergang Earnfords waren die Strafe für meine Hybris gewesen. Diese beiden Schicksalsschläge hatte Gott für nötig erachtet, um mich wieder zur Vernunft zu bringen, mich daran zu erinnern, wer ich eigentlich war.
Trotzdem war der Tancred, der diese Gruppe hungriger und verzweifelter Menschen durch das Grenzland führte, ein ganz anderer Mann als jener, der vor über einem Jahr nach Earnford gekommen war. Ja, ich war in der Tat ein anderer geworden, und ich spürte eine ganz neue Entschlossenheit in mir. Alle Nackenschläge, die ich erlitten hatte, alle Not und alles Elend hatten am Ende nur dazu gedient, mich stärker zu machen.
Unterwegs trafen wir immer wieder Männer und Frauen, die mit ansehen
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