Die Rolling-Stone-Jahre (German Edition)
spielte den Tennessee Waltz, aber niemand tanzte. Drei Abende zuvor war die Poodle Bar so überfüllt gewesen, dass man kaum zur Tür hineinkam. Die Crème de la Crème der Journaille unserer westlichen Hemisphäre hatte sich hier in der vergangenen Woche ein Stelldichein gegeben. Zumindest hab ich das von Sally Quinn gehört, und die kennt sich mit solchen Dingen aus.
Ich ging zurück zu den Fahrstühlen und fand einen, der fahrbereit war. Der Anblick meiner Bierflasche im Spucknapf ließ mich wieder an Nixon denken … Wer mochte sonst noch an dem Deal beteiligt sein? Ich nahm mir einen Miami Herald vom Stapel hinten im Fahrstuhl und gab der Fahrstuhlführerin einen Dollar.
»25 Cents«, sagte sie brüsk und stoppte den Fahrstuhl auf meiner Etage … aber bevor sie mir das Wechselgeld geben konnte, stieg ich aus und winkte ihr zu. »Keine Sorge«, sagte ich. »Ich bin reich.« Dann hastete ich den Flur hinunter in mein Zimmer und verriegelte die Tür.
Das Spiel lief bereits, aber noch hatte keine Mannschaft Punkte gemacht. Ich verstaute meine Bierflaschen in der Styroporkühlbox, öffnete eine und setzte mich, um zuzusehen und gleichzeitig über Nixons Verrat nachzugrübeln. Aber zuerst konzentrierte ich mich für eine Weile auf das Spiel. Man kann nur sehr schwer verstehen, wie jemand anderer denkt, wenn man nicht auf dessen Wellenlänge ist: Man muss sich einstimmen auf dessen Denkstruktur, auf Muster und Tempo und Assoziationen … Und da Nixon als footballsüchtig gilt, beschloss ich, mich ganz dem Rhythmus des Freundschaftsspiels zwischen den Rams und Kansas City hinzugeben, bevor ich den Sprung zur Politik versuchte.
Nur sehr wenige Menschen können einer solchen Logik folgen. Mir hat sie damals 1963 ein brasilianischer Psychiater in Matto Grosso beigebracht. Er nannte sie auf Englisch »Rhythm Logic«, denn er sagte, ich würde das ursprüngliche Jibaro-Wort dafür sowieso nicht aussprechen können. Ich habe es ein- oder zweimal versucht, aber die Jibaro-Sprache liegt mir einfach nicht – und außerdem war es auch egal. Ich schien ein instinktives Gefühl für diese »Rhythmuslogik« zu besitzen, denn ich kapierte sie sehr schnell. Dennoch ist es mir nie gelungen, sie zu erklären, außer in musikalischen Begriffen.
Am Ende des ersten Spielviertels hatte ich das Gefühl, so weit zu sein. Indem ich jeder Einzelheit des Footballspiels meine ungeteilte und konzentrierte Aufmerksamkeit widmete, gelang es mir, meine eigenen Gehirnwellen sozusagen »aus dem Gleis« laufen zu lassen und sie zeitweilig dem Gehirnwellen-Rhythmus eines echten Football-Fans anzukoppeln und auf die Weise neu zu strukturieren. Der nächste Schritt bestand darin, meine »entliehenen« Rhythmen auf ein Thema zu fokussieren, das sich vom Football stark unterschied – wie zum Beispiel die Präsidentschaftspolitik.
Im dritten und letzten Schritt konzentrierte ich mich nun auf ein ausgesuchtes Problem im Rahmen der Präsidentschaftspolitik und versuchte, es subjektiv zu lösen … obwohl das Wort »subjektiv« an dieser Stelle eine ganz andere, aber ebenso wahre Bedeutung hat. Denn meine Gedankengänge waren nicht mehr den Rhythmen meiner eigenen Gehirnwellen unterworfen, sondern denen eines Footballsüchtigen.
Und da wurde mir mit fast unerträglicher Schärfe deutlich, dass Richard Nixon die Republikanische Partei in Miami verraten, verkauft und preisgegeben hatte. Vielleicht sogar ganz gezielt, auch wenn er es nie ausdrücklich irgendwo formuliert hatte. Einfach weil die Rhythmen seiner Gehirnwellen seinen Verstand überzeugten und ihm gar keine andere Wahl ließen. Von der sicheren Annahme ausgehend, dass Richard Nixon zurzeit kein wichtigeres Ziel kannte, als das Risiko zu minimieren, die Wahl 1972 gegen George McGovern zu verlieren, gebot die schlichte Logik, dass er seine ganze Kraft darauf richtete – koste es, was es wolle. Alle anderen Ziele würden hinter der Nummer eins zurückstehen müssen.
Zur Halbzeit, als die Rams sechs Punkte zurücklagen, hatte ich eine gesicherte wissenschaftliche Basis für das paranoide Geschwafel gefunden, das ich vor ungefähr einer Stunde von mir gegeben hatte, als ich in der Hoteleinfahrt mit Bobo, dem Nachtkuppler, gesprochen hatte. Da ich weder ignorant noch verwirrt wirken wollte, hatte ich seine Frage aus dem intellektuellen Handgelenk beantwortet … Aber jetzt erschloss sich alles und leuchtete – dank Rhythmuslogik – ein. Was blieb, waren nur noch zwei oder drei nebensächliche
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