Die Rolling-Stone-Jahre (German Edition)
eines Kandidaten drastisch.
An diesem Punkt wird er zu einer öffentlichen Person, ein ernsthafter Mitbewerber, und die zeitlichen und physischen Anforderungen an ihn steigern sich bis zum Irrsinn. Jeden Morgen, wenn er aufwacht, liegt vor ihm ein auf den Sekundenbruchteil ausgerechnetes 18-Stunden-Pensum – bestehend aus Besprechungen, Reden, Flughafenaufenthalten, Ansprachen, Pressekonferenzen, Motorradkolonnen und Händeschütteln. Anstatt mit Kleinstadtreportern bei ein oder zwei Drinks über die Lage zu diskutieren und zwischendurch auch mal Klartext zu reden, sitzt er jetzt in seinem gecharterten Flugzeug, das vollgepfercht ist mit Korrespondenten der großen Verlage und den Stars der landesweiten Fernsehsender, und zischt im ganzen Land herum … Kameras und Mikrofone folgen ihm auf Schritt und Tritt, und an die Stelle eines ausgiebigen und aufrichtigen Werbens um die Unterstützung von fünfzehn Amateurpolitaktivisten im Wohnzimmer eines Literaturdozenten in Keene, New Hampshire, tritt nun – an manchen Tagen drei bis vier Mal – das Herunterbeten einer klischeebefrachteten Standardrede in riesigen Sälen vor einem Publikum von Leuten, die ständig an den falschen Stellen lachen oder Beifall klatschen und denen seine Agenda unter Umständen völlig egal ist … Und all die großen Tiere, die Gewerkschaftsführer und Politgrößen, die noch vor ein paar Monaten seine Anrufe unbeantwortet ließen, als er verzweifelt um Unterstützung bettelte, klingeln ihm nun fast den Hörer von der Gabel, kaum dass er in Boston, Miami oder Milwaukee in das Hotel eingecheckt ist, das seine Manager ihm für diese Nacht gebucht haben. Aber sie rufen ihn nicht an, um ihn ihrer Unterstützung zu versichern, sondern nur um ihm mitzuteilen, dass sie vorerst keinen anderen Kandidaten unterstützen werden, sie ihn allerdings erst noch ein bisschen besser kennenlernen müssen.
Es ist ein verdammt mieses Spiel, das diese kaltherzigen, hochkarätigen Zocker spielen. Der Präsident der USA mag vielleicht nicht mehr »der mächtigste Mann der Welt« sein, aber er ist nach wie vor mächtig genug, dass ihm nicht jeder x-Beliebige auf der Welt ohne Weiteres ans Bein pinkeln kann. Und jeder, der den Eindruck macht, als könnte er demnächst diese Macht in Händen halten, sollte sich besser schon jetzt mit dem Gedanken anfreunden, dass er, um überhaupt gewählt zu werden, sich mit einigen reichlich bösartigen und gnadenlosen Gestalten einlassen muss.
Heute Abend werde ich meinen Freund Pat Caddell anrufen, der als Demoskop für Jimmy Carter arbeitet und einer der drei oder vier Topleute in dessen Strategieteam ist. Wie üblich werden eine unserer täglichen philosophischen Unterhaltungen führen. Jimmy Carter ist bei diesen Gelegenheiten immer unser Hauptthema, und wir haben, seit dieser drittklassige, billige Wahlkampfzirkus sich vor etwa vier Monaten auf seinen Weg durch das ganze Land gemacht hat, kaum eine Gelegenheit versäumt, gemeinsam Strategien auszubaldowern, zu diskutieren und uns gegenseitig Argumente um die Ohren zu schlagen.
Das war, bevor Pat bei Jimmy anheuerte, jedoch lange nachdem ich in etwa dreiunddreißig Dutzend Zeitungen und Zeitschriften im ganzen Land als einer von Carters glühendsten Verfechtern der ersten Stunde tituliert wurde. Überall wo ich auftauchte – sei es Austin, Washington, Boston, Chicago oder Key West gewesen –, wurde ich von Freund und Feind gleichermaßen für die Aussage in die Pfanne gehauen, dass ich »Jimmy Carter mag«. Ich wurde dafür von großen Menschenmengen mit Schmähungen bedacht, von liberalen Experten und anderen Gucci-Typen in der Presse lächerlich gemacht und von einigen meiner ältesten und besten Freunde als hirngeschädigter Grützkopf bezeichnet. Ja, sogar meine eigene Frau warf ein Messer nach mir, als in der Nacht der Vorwahlen in Wisconsin das Radio um Mitternacht die überraschende Meldung brachte, frühere Berichte von NBC und ABC, wonach Mo Udall einen knappen Sieg über Carter errungen hatte, seien nicht zutreffend und die spät eingegangenen Ergebnisse der Auszählungen in ländlichen Bezirken deuteten auf eine deutliche Mehrheit für Carter hin, den CBS nunmehr zum Gewinner in Wisconsin erklärte.
Sandy mag Mo Udall. Ich übrigens auch … außerdem mag ich Jerry Jeff Walker, den Scofflaw King von New Orleans und eine Menge anderer Leute, von denen ich nicht unbedingt der Ansicht bin, dass sie Präsident der USA sein sollten. Die Machtkonzentration in diesem
Weitere Kostenlose Bücher