Die Rolling-Stone-Jahre (German Edition)
Mörderramme
3. Februar 1972
»Themen gibt es genug. Woran es jedoch allgemein mangelt, ist die Leidenschaft, sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Vielleicht ist die Hoffnung verschwunden. Ein Scheitern der Hoffnung hätte schreckliche Folgen; die Schwarzen waren Amerika gegenüber bisher noch nie zynisch eingestellt. Aber lauscht man den Gesprächen der Jugendlichen auf der South Side von Chicago, oben in Harlem oder in Bedford-Stuyvesant, drängt sich einem der Gedanke auf, dass ein neuer Zynismus entstanden ist. Angesichts dessen, was die Regierung tut, war zwar durchaus damit zu rechnen, dass die jungen Schwarzen die Hoffnung auf die Machtelite verlieren, aber dies hier ist etwas anderes – eine kalte persönliche Indifferenz, eine Abkehr des Menschen vom Menschen. Was man hört und sieht, ist nicht Wut, sondern Verletzung, ein Versiegen der Erwartungen.«
– D. J. R. Bruckner,
6. Januar 1972 in der L. A. Times
Bruckner ging es in seinem Artikel vor allem um die Stimmungslage der schwarzen Jugendlichen, aber wenn man ihn nur oberflächlich las, konnte einem dieser Aspekt leicht entgehen. Weil nämlich die Stimmung unter den weißen Jugendlichen nicht viel anders ist – trotz einer intensiven und bestens finanzierten Pressekampagne, die von einem gewaltigen Potenzial an »Jungwählern« spricht.
Da handelt es sich um ungefähr 25 Millionen zum Teil erstmaliger Wähler zwischen achtzehn und fünfundzwanzig Jahren, die vermeintlich das Schicksal der Nation in ihren jungen rührigen Händen halten. Wenn man den Leuten glaubt, die sich zu ihrem Sprachrohr erklären, besitzt die Jungwählerschaft die Macht, Nixon mit einem Fingerschnipsen aus dem Amt zu jagen. Hubert Humphrey fehlten 1968 nur 499704 Stimmen – ein winziger Prozentsatz dessen, was die sogenannte »Jungwählerschaft« 1972 an Stimmen aktivieren könnte.
Aber es gibt nicht viele Leute in Washington, die sich ernsthafte Gedanken über diese »Jungwähler« machen. Das tun nicht einmal die Präsidentschaftskandidaten selbst. In deren Kreisen geht man davon aus, dass die jungen Leute, die 1972 zum ersten Mal wählen, sich mehr oder weniger auf dieselben politischen Lager verteilen werden wie ihre Eltern und dass auch die zusätzlichen 25 Millionen neuer (potenzieller) Wähler nichts als eine kurzfristig zu bewältigende Masse darstellen, die eben vom althergebrachten Verteilungsmuster absorbiert werden muss … vergleichbar mit einer großen neuen Welle von Einwanderern, die noch nicht recht durchblicken, aber schon bald alles Nötige gelernt haben. Warum sich also Sorgen machen?
Genau. Die Drecksäcke, die so denken, werden wahrscheinlich wieder einmal recht behalten – aber diesmal dürfte sich die Überlegung lohnen, ob sie aus den falschen Gründen richtig liegen. Fast alle Politiker und schlauen Journalisten, von denen die sogenannte »Jungwählerschaft« als Faktor bei den Wahlen 1972 geringschätzig abgetan wird, rechtfertigen ihre Überlegung mit einer pessimistisch betrübten Einschätzung der »Kids«.
»Wie viele werden sich überhaupt registrieren lassen?«, fragen sie. »Und selbst wenn wir davon ausgehen, dass sich ein Drittel der infrage Kommenden registrieren lässt, wie viele von denen werden letztlich an die Wahlurnen kommen?«
Immer wieder wird unterstellt, dass die Bedrohung durch »Jungwähler« nichts ist als ein brüllender Papiertiger. Sicher, einige von den Kids werden wählen, sagt man, aber so wie es jetzt aussieht, werden es kaum mehr als zehn Prozent sein. Das sind die aus den Colleges; die anderen neunzig Prozent sind entweder beim Militär, gehen stempeln oder arbeiten ganz normal – als Gehaltsempfänger, frisch verheiratet, gerade im ersten Job. Mann, diese Leute sind doch jetzt schon festgenagelt , genau wie ihre Eltern.
So wird argumentiert … und im Moment kann man wohl mit Sicherheit davon ausgehen, dass es in Washington nicht einen Präsidentschaftskandidaten, Medienguru oder neunmalklugen Hintertreppendemoskopen gibt, der ehrlich glaubt, dass die »Jungwähler« mehr als eine Splittergruppe mit marginalem Einfluss auf das Endergebnis der Präsidentenwahl von 1972 sein werden.
Diesen Kids graust es vor der Politik, heißt es. Die meisten von ihnen möchten noch nicht einmal was davon hören. Alles, was sie heutzutage wollen, ist, auf ihren Wasserbetten rumlümmeln und das verfluchte Merrywanna rauchen … ja, und ganz unter uns, Fred, ich finde, das ist auch ganz gut so.
Unter dem halben Dutzend
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