Die Romanow-Prophezeiung
meinen Augen und zerstörte es, um ihren eigenen Schmerz zu lindern.«
»Warum seid ihr nicht einfach an einen anderen Ort gezogen?«, fragte er.
»Damit war Tusja nicht einverstanden. Er wollte Moskauer sein. Das wollte damals jeder, der nicht in Moskau wohnte. Er ging zur Armee, ohne vorher mit mir darüber zu reden. Er hatte ja nur diese Möglichkeit, wenn er nicht in irgendeiner Fabrik malochen wollte. Er erklärte mir, sobald er sich das Recht erworben habe, am Ort seiner Wahl zu leben, werde er zurückkommen.«
»Und wie ging es weiter mit ihm?«
Sie zögerte und sagte dann: »Er ist in Tschetschenien gefallen. Völlig sinnlos, denn am Ende war alles genauso wie am Anfang. Ich habe das meiner Mutter nie verziehen.«
Er hörte die Bitterkeit in ihrer Stimme. »Haben Sie ihn geliebt?«
»Sosehr, wie ein junges Mädchen eben lieben kann. Aber was ist Liebe? Für mich war es eine kurze Zeit der Erholung von der Wirklichkeit. Sie haben mich einmal gefragt, ob ich mir von einer Zarenherrschaft eine Verbesserung erhoffe. Doch wie könnte es denn überhaupt schlimmer werden?«
Er widersprach ihr nicht.
»Sie und ich, wir sind verschieden«, sagte sie.
Er verstand sie nicht.
»Mein Vater und ich, wir sind uns in vieler Hinsicht ähnlich. Uns beiden hat das harte Mutterland Liebe versagt. Sie andererseits hassen Ihren Vater, wussten aber die Chancen zu nutzen, die Ihr Heimatland Ihnen bietet. Das Leben bringt wirklich die interessantesten Extreme hervor.«
Ja, da hatte sie Recht, dachte er.
Der San Francisco International Airport war von Menschen überfüllt. Akilina und Lord hatten nur Handgepäck dabei, jene Schultertaschen, die Semjon Paschkow ihnen gegeben hatte. Falls Lord in den nächsten Tagen nichts herausbekam, würde er nach Atlanta zurückkehren und Taylor Hayes anrufen – dann mochte Paschkow und Rasputin seinetwegen der Teufel holen. Vor dem Aufbruch aus Georgia hätte er fast noch im Büro angerufen, entschloss sich dann aber doch dagegen. Er wollte sich so lange wie möglich an Paschkows Wünsche halten, da er inzwischen zumindest teilweise an diese Prophezeiung glaubte, die er früher für kompletten Unsinn gehalten hatte.
Sie gingen an der Gepäckausgabe vorbei, wo die Fluggäste sich drängten, und schlugen den Weg nach draußen ein. Hinter einer Glaswand leuchtete der sonnige Westküstennachmittag herein.
»Und jetzt?«, fragte Akilina auf Russisch.
Er antwortete nicht. Vielmehr hatte er die Augen auf die gegenüberliegende Wand der überfüllten Ankunftshalle gerichtet.
»Kommen Sie«, sagte er, ergriff Akilinas Hand und führte sie durch die Menschenmenge.
Hinter einem Gepäckausgabeband der American Airlines hing an der hell erleuchteten Wand eines jener zahllosen Plakate, die überall die Wände des Terminals bedeckten. Farbenfroh warben sie für alles und jedes, von Eigentumswohnungen im Wohnpark bis zu Sonderrabatten für Fernsprechgebühren. Er starrte die Aufschrift über dem Foto eines tempelähnlichen Bauwerks an:
CREDIT & MERCANTILE BANK OF SAN FRANCISCO
GEGRÜNDET 1884
Ein Finanzdienstleister mit Tradition
»Was steht da?«, fragte Akilina auf Russisch.
Er erklärte es ihr, fand den Schlüssel in seiner Hosentasche und sah noch einmal auf das in die Messingoberfläche eingeritzte Akronym:
C. M. B.
»Ich glaube, dass unser Schlüssel zu einem Safe der Credit and Mercantile Bank gehört. Die existierte auch schon in der Regierungszeit Nikolaus’ II.«
»Wie können Sie sich da so sicher sein?«
»Bin ich gar nicht.«
»Wie kommen wir an das Schließfach?«
»Gute Frage. Wir brauchen eine überzeugende Story. Ich bezweifle sehr, dass die Bank uns einfach mit einem uralten Schlüssel da hineinmarschieren lässt und den Safe für uns aufsperrt. Man wird uns Fragen stellen.« Jetzt erwachte der gewiefte Rechtsanwalt in ihm. »Aber ich glaube, mir fällt da etwas ein.«
Die Taxifahrt vom Flughafen ins Stadtzentrum dauerte eine halbe Stunde. Er hatte ein Marriott-Hotel in einer Nachbarstraße des Bankenviertels gewählt. Das riesige, mit Spiegelglas verkleidete Gebäude sah aus wie eine Jukebox. Dieses Hotel hatte er nicht nur ausgewählt, weil es günstig lag, sondern auch wegen der guten bürotechnischen Ausstattung für Geschäftsreisende.
Nachdem sie die Reisetaschen in ihrem Zimmer abgestellt hatten, führte Lord Akilina nach unten. Auf einem der PCs tippte er eine gerichtliche Verfügung mit dem Briefkopf NACHLASSGERICHT DES BEZIRKS FULTON
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