Die Romantherapie: 253 Bücher für ein besseres Leben (German Edition)
einen Gang zu finden, der nach draußen führt.
Sollten Sie immer noch VERIRRT sein, weil Ihnen nichts anderes enthüllt wurde als die nur für Ihre Fantasie sichtbaren ›Umrisslinien von Leben‹, werden Sie, während Sie diese postmoderne Achterbahn einer Meta-Erzählung und eines offen gestanden ziemlich dreisten Lügenmärchens lesen, feststellen, dass Sie, wenn Sie die Hoffnung aufgeben, sich an einem
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zu können, Freude daran finden, sich in Fußnoten und Anmerkungen zu verlieren. Denn immerhin wird man am Ende für die Zeit, die man sich für eine derart komplexe, zeitintensive und blendend helle Fülle von Einfällen genommen hat, mit einer alles ›beiläufig‹ Erlebte derart weit übersteigenden Ahnung belohnt, dass einem schließlich klar wird, dass das VERIRRT -Sein im Gewand einer seiner vielen überzeugenden Maskeraden 42 letztendlich nichts weiter ist als
eine Tür,
deren Griff man lieber
drücken
und öffnen sollte.
Wenn Sie sich trauen.
Oder Ihnen gelingt die Flucht, indem Sie Das Haus einfach ganz verlassen.
Um dann allerdings am nächsten Morgen aufzuwachen
und
neben Ihrem Wecker im Holz des
Beistelltischchens
schartige Klauenspuren
zu entdecken. 384
Verliebtheit
Kinder der Nacht
Jean Cocteau
Es gibt nichts Aufregenderes, Süßeres und Berauschenderes, als mitten in einer ernsthaften Verliebtheit zu stecken. Wer auch immer das Objekt Ihrer Begierde ist: Sich in der Bewunderung eines Mitmenschen zu verlieren, ist eine der fesselndsten und wahnsinnig lustvollen Möglichkeiten, große Brocken der eigenen Lebenszeit zu opfern. Aber für all die Annehmlichkeiten dieses Zustands zahlt man einen Preis. Das Objekt der Begierde hat vielleicht nicht die gleichen Gefühle; außerdem ist Verliebtheit von Natur aus blind für jede Praktikabilität. Sie ist gänzlich unvernünftig und extravagant und nährt sich mehr aus sich selbst heraus, als dass sie den Rückfluss der Zuneigung von Seiten des Liebesrezipienten wirklich benötigt ( ▶ Liebe, unerwiderte ). Und wenn auch 385 nicht ganz so gefährlich, kann Verliebtheit doch eine Vorstufe der Besessenheit sein, denn sie macht es dem Opfer unmöglich, seine eigene Torheit und die Unzulänglichkeit des Zielobjekts zu erkennen.
Cocteaus enigmatischer kleiner Roman ist ein Musterbeispiel der Berauschtheit. Er setzt ein völlig erstaunliches Liebeslabyrinth um ein Geschwisterpaar ins Bild, das sich in unterschiedliche, überkreuzte Verliebtheiten verstrickt: In einer großen Pariser Einzimmerwohnung, die eher einer Bühne gleicht, pflegen Paul und Elisabeth ihre Mutter. Irgendwann werden sie dort mit ihren Ideen und Neurosen, die wie Blumen im Gewächshaus gedeihen, alleine gelassen. In der Schule war Paul in Dargelos verliebt, einen hübschen Jungen, der einen Schneeball mit einem Stein in der Mitte nach ihm warf. Hierauf ist der zerbrechliche Paul wochenlang bettlägrig, wobei er als die »süßen Freuden des Krankseins« genießender Invalide seine Schwester ein bisschen zu sehr zu lieben beginnt. Während der Zeit der Genesung wiederum lernt er Agathe kennen (die Dargelos sehr ähnlich sieht) und verliebt sich in sie. Gleichzeitig verstricken sich Paul und Elisabeth auch noch in ihre gegenseitige Verliebtheit und ziehen sich mehr und mehr in eine Traumwelt zurück.
Es kann gar nicht anders als böse enden – dafür ist die Geschichte viel zu rauschhaft, zu intensiv und zu prismatisch gebrochen. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis wir die Scherben klirren hören. Sollten Sie sich in den Fängen einer ähnlich intensiven Verliebtheit befinden, tauschen Sie das Objekt Ihrer Begierde aus dem wahren Leben gegen dieses Buch. In den Künstlerzirkeln seiner Zeit (in denen auch Picasso, Modigliani, Proust und Gide verkehrten) war Cocteau als der »frivole Prinz« bekannt und löste selbst viele Male bei anderen Verliebtheit aus. Seine sinnliche Prosa und lebhafte Fantasie sind gleichermaßen hinreißend. Kinder der Nacht hat er in einer Zeit geschrieben, als er versuchte, sich vom Opium abzuwenden, und jedem einzelnen anschwellenden Satz merkt man an, wie sein Blut nach der Droge ruft.
Lassen Sie sich nicht von den Winden launenhafter Begier 386 den ins Verderben wehen. Die Freude, die man in ästhetischen Höhen finden kann, ist von ewiger Dauer, Ihre sterbliche Verknalltheit nicht.
▶ Obsession
▶ Liebeskummer
Verrat
Der Verrat
Cécile
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