Die Romantherapie: 253 Bücher für ein besseres Leben (German Edition)
Jim) White. Aber Freunde, Bekannte und sogar seine Frau erkennen Stiller in ihm – ein Rätsel, das uns genauso verwirrt wie White (oder sollen wir sagen Stiller?) selbst. Während sich die Wahrheit Stück für Stück herausschält, erhaschen wir einen der seltenen Blicke auf die Fragilität unserer Beziehung zu uns selbst.
Sollten Sie das Pech haben, Ihrer Identität vollständig verlustig gegangen zu sein, ist das beste Medikament, um das Sie Ihre Fühler legen können, tatsächlich Die Verwandlung von Franz Kafka. Der Handlungsreisende Gregor Samsa wacht eines Morgens auf und findet sich in ein ungeheures Ungeziefer verwandelt, eines mit einem weichen Panzer. Genau wie er selbst ekelt sich auch seine gesamte Familie vor ihm; sein Leben wie vor seiner Verwandlung unverändert 187 fortzuführen ist ihm unmöglich. Die Nahrungsaufnahme ist eine Herausforderung, Kommunikation unmöglich, simple Körperpflege erst recht zur Disposition gestellt. Langsam sinkt Gregor in einen leeren, grüblerischen, aber doch friedvollen Zustand – und verhungert.
Sie können von Glück sagen, dass Sie, auch wenn Sie nicht wissen, wer Sie sind, zumindest sicher sein können, ein Mensch zu sein. Bewundern Sie Ihre Finger, Ihre Zehen und Ihre Nasenspitze. Genießen Sie es, Ihre Gliedmaßen zu benutzen. Lesen Sie den letzten Absatz von Kafkas Meisterwerk laut. Erfreuen Sie sich der Tatsache, dass Ihre Stimme nicht wie das entsetzlichen Schaben eines Insekts klingt. Feiern Sie Ihre Menschlichkeit – wessen Menschlichkeit sie auch sein mag.
▶ Unsicherheit über die eigene Lese-Identität
Idiot; sich wie einer fühlen
Der Idiot
Fjodor Dostojewski
Onno Viets
Frank Schulz
Im Raum wird es still, und Sie merken, dass ein Meer aus Gesichtern Sie anstarrt. Es dämmert Ihnen, dass Sie die einzige Person sind, die nicht versteht, was an dem, was Sie gerade gesagt haben, falsch sein soll. Und schon fängt jemand an zu lachen, und einer nach dem anderen fallen die anderen ein. Sie merken, wie Ihnen die Röte heiß ins Gesicht steigt, gefolgt von einem Schamgefühl, das ihren Adern alles Blut entzieht ( ▶ Scham ). Diese Menschen lachen nicht mit Ihnen, sie lachen über Sie.
Wir alle haben das schon erlebt. Sich wie ein Idiot zu fühlen ist fast genauso unvermeidbar wie sich zu verlieben. Tatsächlich ist es gar nicht unbedingt schlecht, der Idiot zu sein. 17 Der liebenswürdige Prinz Leo Myschkin aus Dostojewskis Der Idiot ist eher im sozialen denn im intellektuellen Sinne ein Idiot, der außerhalb der Gesellschaft steht, weil er kei 188 nerlei Verständnis für deren Mechanismen hat: Geld, Status, Small Talk und die feinen Unwägbarkeiten des Alltags sind ihm schleierhaft. Aber wir als Leser denken an Prinz Leo nicht mit Gering-, sondern mit absoluter, liebevoller Wertschätzung. Ja, jeder, der diesem Prinzen im Roman begegnet, regt sich über ihn genauso auf, wie er gleichermaßen entzückt von dessen tiefgehendem Verständnis einer Facette der Wirklichkeit ist, die die meisten von uns nicht sehen.
Wenn Sie von genialen Idioten der Weltliteratur noch nicht genug haben, sollten Sie den hier unbedingt kennenlernen: Onno Viets, der Held aus Frank Schulz' Roman Onno Viets und der Irre vom Kiez . Er trägt Stoppersocken, lebt von Hartz IV , ist Meister seiner Hamburg-Eppendorfer Pingpong-Runde und hat eine geniale Idee: Er wird Privatdetektiv. Nun beginnt ein unerhört komisches Roadmovie, eine brillante Hamburgmilieu-Studie, ein Sprachkunstwerk quer durch Dia- und Soziolekte, an dessen Ende – man staune und ziehe den Hut vor dem vermeintlichen Idioten – Onno Viets, der Leistungsverweigerer und Versager, ein hervorragender Ermittler geworden ist.
Wenn Sie diese beiden Romane gelesen haben, und wenn es mal wieder still um Sie werden sollte – Leute kramen verlegen in ihren Handtaschen oder spielen ostentativ mit ihrem Smartphone –, dann denken Sie einfach an Dostojewskis Prinzen oder stellen Sie sich vor, wie Onno Viets jedem einzelnen schmutzigen Geheimnis dieser Leute auf die Schliche kommt.
▶ Außenseiter sein
Impotenz
Die Liebesblödigkeit
Wilhelm Genazino
Alles stimmt: Ihr Handy ist ausgeschaltet, der Alkohol ist in wohldosierten Mengen geflossen, Ihr Atem ist so frisch wie die Bettlaken, Christina Aguilera singt Dirty und die Kerzen flackern verheißungsvoll. Doch dann: Sie können nicht. Oder vielmehr: Sie fürchten, nicht zu können. Bereits die Furcht nimmt Ihren Absichten den Schwung und Ih 189 rer Erektion die
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