Die Rose von Angelâme (German Edition)
Schulter. Sie fühlten sich warm an.
„Denn du bist auserwählt den Samen weiter zu tragen, aus dem in ferner Zeit ein stattlicher Baum erwachsen wird. Die Frucht dieses Baumes ist es, für die du lebst und sterben wirst.“
Als das Kind die alte Frau entsetzt ansah, lächelte sie und streichelte zärtlich über ihr Gesicht.
„Wer seid Ihr?“, fragte Rose zaghaft.
„Mein Name ist Madeleine, mein Kind, und hier“, sie machte eine ausladende Handbewegung. „Hier stand vor langer Zeit einmal mein Haus.“
„Auf dem Galgenhügel?“, fragte Rose erstaunt.
„Damals war es noch kein Galgenhügel“, erklärte ihr die Dame geduldig. „Damals stand hier ein kleines Haus. Es war mein Haus. Es ist zerfallen und vergessen, und ängstliche Menschen haben den Galgenhügel über den Mauerresten errichtet, weil sie einen Fluch auf diesem Fleckchen Erde wähnten. Aber das ist Unsinn. Hier wurde auch niemals jemand hingerichtet.“
Rose schaute sich ungläubig um. Nichts hier sah aus, als hätte jemals ein Haus existiert. Die Alte schien von Sinnen zu sein.
„Hab keine Angst mein Kind. Es geschieht alles, wie es seit Anbeginn geschehen soll“, fuhr die Dame fort, ohne auf Roses ratlose Blicke einzugehen. „Wer Ohren hat zu hören, der höre! So höre also, was ich dir sage …“
Eines Tages im darauf folgenden Jahr kamen einige hohe geistliche Herren in den Ort Angelâme, der die Burg wie ein Kragen einen Hals umgab. Anlass dafür war eine Feierlichkeit in Paris, an der die Herren teilnehmen sollten. Auf ihrem Weg dorthin machten sie Station in Angelâme, und schon Tage vorher bereitete sich die gläubige Gemeinde des kleinen Marktes auf diesen ungewöhnlichen Besuch vor. Ehrenjungfrauen wurden in aller Eile eingekleidet, die Mitglieder der gräflichen Familie und alles, was sonst noch Rang und Namen hatte, waren tagelang mit den Vorbereitungen für den Empfang der hohen Herren beschäftigt.
Auch Rose wurde in die Arbeiten mit einbezogen. Erfreut, dem grässlichen Einerlei des Burglebens zu entkommen, beteiligte sie sich an allem, was es zu tun gab.
Als die Herren schließlich eintrafen, fanden sie einen prächtig herausgeputzten Markt vor, dessen Bürger alles getan hatten, den Aufenthalt des angekündigten Erzbischofs und seines Gefolges so angenehm wie möglich zu gestalten. Am nächsten Tag, einem Sonntag, las der Erzbischof höchstselbst die Messe. Dabei begriffen die meisten Anwesenden, dass der Geistliche von Gottes Gnaden, der seit Jahren die katholische Gemeinde hier betreute, keine Ahnung davon hatte, wie eine Messe zu lesen war. Und alle, die ein wenig Latein verstanden, fühlten sich in ihrer Vermutung bestätigt, dass nicht ihr, sondern das Latein ihres Gemeindepriesters zu wünschen übrig ließ.
Nach der Messe waren die hohen Herren eingeladen, im gräflichen Anwesen ein Essen einzunehmen. Rose war überrascht, als der Erzbischof von Bordeaux sie zu sich bat.
„Lass uns ein Stückchen zusammen gehen“, schlug de Got vor, und Rose, die ein ahnungsvolles Gefühl beschlich, traute sich nicht, ihm zu widersprechen. Sie warf einen Hilfe suchenden Blick zu den anderen Erwachsenen hinüber, die ihr jedoch aufmunternd zunickten, und folgte ihm zögernd in den menschenleeren Garten hinter der Burgmauer.
Nach ein paar freundlichen, belanglosen Worten kam der Erzbischof zur Sache.
„Ich habe von deiner Geschichte mit der seltsamen Roten Frau erfahren. Du erinnerst dich?“, begann er.
Rose nickte. Ihr Hals war vollkommen ausgetrocknet.
„Stimmt es, was man mir darüber erzählt hat?“
„Ich weiß nicht?“
Der Bischof, der ihr zutiefst unsympathisch war, legte seine dürre, schweißnasse Hand auf ihre Schulter und schloss für einen Moment die Augen. Er war es nicht gewöhnt, als Bittsteller dazustehen. Schon gar nicht vor einer Frau - und am allerwenigsten vor einem Mädchen. Aber die Umstände erforderten, dass er vorsichtig war.
„Rose“, sagte er schließlich und bemühte sich offensichtlich, dabei ein freundliches Gesicht zu machen. Er wollte es wohl besonders schlau angehen. Deshalb fragte er so leichthin wie irgend möglich: „Was hat sie dir erzählt?“
Rose schüttelte beharrlich den Kopf.
„Das kann ich Euch nicht sagen.“
„Nicht? Unsinn! Du weißt doch, dass ich schweigen muss über das, was mir eines meiner Schäfchen anvertraut!“
„Ich weiß davon, ja“, hatte sie ihm schüchtern geantwortet und dabei überlegt, warum der, dem sie alles anvertraut hatte,
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