Die Rose von Angelâme (German Edition)
Augen. „Seid versichert, dass ich mir in Zukunft Mühe gebe, die gesellschaftlichen Spielregeln einzuhalten.“
Marie war sich bewusst, wie viel in Frankreich auf den Adelsstand gegeben wurde, seit die Revolution sich ihrer erbarmungslos angenommen hatte. Viele Adelige waren danach völlig verarmt und schlimmer dran gewesen als mancher Bauer, der wenigstens noch mit seiner Hände Arbeit für seine Familie sorgen konnte. Aber sie wollte, dass dieser dreiste Kerl hier wenigstens Respekt vor dem hatte, was sie nach wie vor repräsentierte: eine gewisse gehobene Gesellschaftsschicht, in ihrem Fall getragen durch einen unübersehbaren Reichtum.
„Darauf bestehe ich allerdings.“
Julien zeigte auf die Papiere, die vor ihr ausgebreitet lagen. „Das sind sehr alte Dokumente, nicht wahr?”
„Monsieur!“
Er schaute überrascht auf und verstand augenblicklich.
„Verzeiht noch einmal ergebenst. Ich muss Euch schrecklich ungehobelt erscheinen.“
Als Marie seine unschuldig dreinblickenden Augen sah, huschte plötzlich ein amüsiertes Lächeln über ihr Gesicht. Offenbar lag es wirklich nicht in seiner Absicht, sie zu brüskieren, und sie beschloss in diesem Augenblick, ihn und seine unkomplizierte Art eher wie einen exotischen Schmetterling zu beobachten, als sich ständig über sein Naturell zu ärgern.
„Könnt Ihr das lesen?“, fragte sie deshalb und schob ihm die Seiten über den Tisch.
Julien warf erneut einen Blick darauf.
„Ja, das ist Latein.“ Er konzentrierte sich einen Augenblick lang auf die Schrift und hob dann den Kopf. „Es scheint ein altes Protokoll zu sein.”
„Ein Protokoll?“, fragte Marie überrascht. Sie hatte eher vermutet, es handele sich um alte Kaufverträge.
„Ja, ein Gerichtsprotokoll oder so etwas Ähnliches.“
Marie riss die Augen auf.
„Gerichtsprotokoll? Um Gottes willen.“ Unwillkürlich sah sie zu der Stelle, an der bislang das Bild mit der Burg und der Hinrichtungsstätte hing, und ein merkwürdiges Gefühl beschlich sie.
„Wollt Ihr, dass ich es für Euch übersetze?“, fragte Julien, dem ihr entsetzter Gesichtsausdruck nicht entgangen war.
„Oh nein“, winkte sie ab. „Ich denke, Ihr solltet Honoré nicht allzu lange warten lassen.“
Julien verbeugte sich zögernd und ging dann hinaus.
Während seiner zweitägigen Abwesenheit stand Marie mehrere Male in dem kleinen, Licht durchfluteten Atelier, welches sich an die Außenmauer des Haupthauses anlehnte wie ein gläsernes Gewächshaus, sah sich an, was er bisher gemalt hatte und verglich es aufmerksam mit dem Original. Ein gewisser Stolz überkam sie, einen so guten Kopisten gefunden zu haben - wenngleich noch immer ein paar Vorbehalte seiner für sie ungewohnten Art gegenüber geblieben waren.
Als Julien wieder zurück war, erzählte er ihr, dass er einige Mühe gehabt hatte, dem Apotheker zu erklären, wie er die Öle und Pulver zu den Farben zu mischen hätte, die er haben wollte. Der Apotheker wollte partout nicht einsehen, warum die Farben so und so und nicht anders gemischt werden sollten, und erklärte Julien schlichtweg für verrückt.
Der Maler beharrte dem Apotheker gegenüber auf seinen Mischungen - schließlich sollte er die Kopie eines Bildes herstellen, das angeblich fünfhundert Jahre alt und mit Tempera auf Holz gemalt war, und wollte die Farben so originalgetreu wie möglich wiedergeben.
Marie lachte herzlich über seine Berichte, die er ihr gab, und als er gegangen war, fiel ihr auf, dass es das erste Mal seit langer Zeit gewesen war, dass sie sich wieder so unbeschwert gefühlt hatte wie früher, als ihr Vater noch lebte. Sie strich eines ihrer rotblonden Löckchen aus der Stirn und trat ans Fenster ihres Lieblingszimmers. Draußen war es längst dunkel geworden, und ein pechschwarzer Himmel, überzogen mit unzähligen Lichtpunkten, zog sich über die Erde. Marie öffnete das Fenster und holte tief Luft. Es war ein merkwürdig beruhigendes Gefühl, diesen jungen Mann um sich zu wissen - das war ihr mit einem Male überraschend bewusst geworden, als er nach diesen zwei Tagen Abwesenheit in ihr Zimmer getreten war.
Erschrocken bemerkte sie, wie sich erneut die Tür öffnete, und sie starrte dem Mann entgegen, der mit einigen raschen Schritten auf sie zukam.
„Jean-Philippe!“, sagte sie fassungslos. Sie hatte ihn vollkommen vergessen.
„Liebste!“ Jean-Philippe nahm ihre beiden Hände in die seinen und sah sie zärtlich an. „Ich hoffe, du hast die vergangenen Wochen
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