Die Rose von Angelâme (German Edition)
Aber schließlich hatte sie sich in den Kopf gesetzt, einigen Dingen auf den Grund zu gehen, und dazu brauchte sie diesen Burschen, der so unbekümmert vor sich hin lebte.
„Julien, wenn Ihr noch wenige Tage bleiben und diese Texte übersetzen könntet?“, fragte sie schließlich und sah ihn erwartungsvoll an. „Ich werde Euch gut dafür bezahlen“, fügte sie schnell hinzu, als sie seinen zögernden Gesichtsausdruck bemerkte. „Es sei denn, Ihr habt bereits eine andere Arbeitsstelle gefunden, die Euch unmittelbar beansprucht.“
Sie wusste nur zu genau, dass das kaum der Fall sein würde, und ein kleines, triumphierendes Lächeln lag um ihren Mund. Das er allerdings tunlichst übersah.
Julien nahm das Dokument in die Hand, das sie ihm hinüberreichte, und überlegte.
„Demoiselle“, begann er schließlich zögernd. „Ich fürchte, ich habe Eure Geduld bereits zu lange in Anspruch genommen. Wie Ihr wisst, scheint meine Anwesenheit nicht nur ständig Euer Missfallen zu erregen. Selbst die übrigen Bewohner des Schlosses zeigten mir in den letzten Tagen deutlich, dass sie froh sind, mich weiterreisen zu sehen. Deshalb ziehe ich es vor, meiner Wege zu gehen. Zumal ich mich unter meinesgleichen weitaus wohler fühle als in Gesellschaft von Menschen, die den ganzen Tag über nichts weiter im Sinn haben, als ihre leidlich überzogenen gesellschaftlichen Regeln.“
Er verneigte sich und nahm den Hut in die Hand, den er auf einer kleinen Konsole neben sich abgelegt hatte.
„Ihr vergesst Euch, Julien!“, fauchte sie ihn wütend an. Dabei hob sie energisch das Kinn und wartete darauf, dass er noch etwas erwiderte.
„Darf ich Euch bitten, mir von Honoré mein Geld ausbezahlen zu lassen?“
„Natürlich.“ Maries Stimme klirrte vor Kälte und maßloser Entrüstung. Wie konnte er es nur wagen, derart respektlos mit ihr umzugehen! Mochte er doch verschwinden. Auf der Stelle. Allerdings: Da waren diese seltsamen Dokumente, die sie ohne seine Hilfe nicht lesen konnte. Während sie abwägte zwischen dem wütenden Entschluss, ihn endlich aus den Augen zu haben und der Neugier, den Inhalt dieser Schriften zu kennen, hörte sie ihn sagen:
„Dann verabschiede ich mich jetzt von Euch.“
Marie erhob sich langsam hinter ihrem Schreibtisch und fasste ihn fest ins Auge. Sie hatte weder Lust noch Zeit, diesen offensichtlichen Machtkampf weiterzuführen, und einen Entschluss gefasst.
„Es interessiert mich nicht, was mein Personal denkt und will, Monsieur, und genauso wenig interessiert mich Eure Ansicht über Menschen einer Gesellschaft, die wahrlich nicht die Eure ist.“ Sie warf mit einer trotzigen Bewegung den Kopf zurück. Ihr war klar, dass sie wenig damenhaft wirkte, wie sie jetzt förmlich um seine Dienste bettelte. Aber sie hatte sich etwas in den Kopf gesetzt und würde nicht locker lassen, bis sie bekam, was sie wollte. „Wenn Ihr gegen gute Bezahlung diese Texte übersetzen könnt, dann lasst es mich wissen. Wenn Ihr diese Arbeit nicht annehmen wollt oder könnt, dann suche ich mir einen anderen Übersetzer. Ansonsten steht es Euch frei zu gehen.“
Julien hatte sie amüsiert beobachtet. Ihm war der innere Kampf keinesfalls entgangen, den sie auszufechten hatte, und bei dem die offensichtliche Neugier auf den Inhalt der Protokolle schließlich die Oberhand gewann.
Als sie geendet hatte, räusperte er sich und kniff die Lippen zusammen.
„Gut, lasst es mich zumindest versuchen“, lenkte er schließlich ein und legte seinen Hut auf die Konsole neben der Tür zurück. „Ich habe allerdings schon lange keine lateinischen Texte mehr übersetzt, und weiß deshalb nicht, wie das Ergebnis ausfallen wird. Außerdem bin ich Maler und kein Übersetzer, was ich zu bedenken bitte.“ Er hatte den Kopf leicht gesenkt, und schaute sie von unten herauf abwartend an. „Aber einen Versuch ist es schon wert“, beeilte er sich hinzuzufügen, als er die kleine Falte auf Maries Stirn entdeckte, deren Bedeutung er inzwischen zu verstehen gelernt hatte. Insgeheim musste er lachen über diese junge Frau, die so mutig immer wieder ihre gesellschaftliche Stellung nach außen hin verteidigte, aber in ganz persönlichen Dingen an den Regeln eben dieser Gesellschaft vorbei entschied. Denn genau das hatte sie doch mit ihrer Entlobung getan, wie Julien inzwischen aus sicherer Quelle erfahren hatte.
„Woher könnt Ihr überhaupt Latein?“, fragte sie.
„Ihr meint, ein dahergelaufener Künstler wie ich kann unmöglich auch
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