Die Rose von Angelâme (German Edition)
plausibler zu sein als ein Einbruch. Es war unmöglich festzustellen, ob Scheiben vor dem Brand eingeschlagen worden waren und jemand von außen hereingekommen ist. Die vielen Leute, die während der Löscharbeiten draußen herumgelaufen sind, haben außerdem alle Spuren im Schnee vernichtet.“
„Wo lagen denn die Scherben?“
„Die Scherben?“
„Wenn jemand eine Scheibe von außen einschlägt, liegen die Scherben innen.“
„Oh! Das ist logisch. Ich weiß es nicht genau. Das müsste die Polizei untersucht haben.“
„Unsere Polizei“, seufzte Julien. „Und die Übersetzung?“
„Als ich Monsieur Sebastien besuchte, hatte ich Eure Übersetzung mitgenommen, weil ich sie ihm zeigen wollte. Ich dachte mir, als langjähriger Freund meines Vaters würde er vielleicht wissen, wo, wann und warum jener diese Dokumente gekauft hatte. Ich erhoffte mir wohl auch von ihm Aufschluss darüber zu bekommen, was es mit der ganzen Geschichte auf sich habe. Das Original mitzunehmen war mir gar nicht eingefallen, weil es in einem Gespräch mit Monsieur Sebastien nichts genützt hätte. Ich verstehe kein Latein, wie Ihr wisst.“
Julien hatte bereits einen anderen Gedanken, den er verfolgte.
„Könnte es sein, dass diese Schriftstücke schon seit ewigen Zeiten im Archiv Eures Vaters lagen und Ihr deshalb nichts über sie wusstet?“
„Darüber habe ich auch bereits nachgedacht. Das ist möglich, ja. Es hieße aber, dass sie irgendwo versteckt in einem der Folianten waren. Mein Vater hat sie vielleicht zufällig dort entdeckt und unter seine Schreibauflage gelegt, um sie später genauer anzusehen.“
„Ihr sagtet, die Originale seien während des Brandes verschwunden“, erinnerte Julien sie. „Das heißt, Ihr hegt den Verdacht, jemand habe sie mitgenommen?“
„Kommt mit in mein Privatzimmer“, sagte Marie und öffnete die Tür. Julien folgte ihr in einen Seitenflügel des Schlosses, den er zuvor noch nie betreten hatte.
Links und rechts des langen, kunstvoll mit Parkett verlegten Flurs zählte er nicht weniger als acht Türen, hinter denen er private Schlaf-und Gästezimmer vermutete.
Er betrat hinter ihr schließlich ungefähr in der Mitte des Flurs zur Linken ein geräumiges, geschmackvoll im Stil der Zeit eingerichtetes Zimmer, welches ganz offensichtlich einer Frau gehörte. Jemand hatte mit liebevoller Hand sehr dezent Accessoires eingebracht, die dem Raum ein unverwechselbar weibliches Flair gaben.
Während die Wände mit zart gemalten Blumentapeten bespannt waren, waren alle Holzrahmen um Türen und Fenster in dazu passendem Grün gestrichen. Das Bett im angrenzenden Zimmer war mit Stoff bezogen, dessen Muster der Tapete nachempfunden war. Teppiche und Vorhänge waren ebenfalls in Grüntönen gehalten, von unzähligen Blüten und Ranken durchbrochen, während die restliche Einrichtung mit weißen und rosaroten Kissen und Accessoires dekoriert war.
Schränke, Tische und Stühle und das Bett waren in dunklem Kirschholz gehalten, welches in warmem Rotbraun glänzte.
Marie hatte sich auf den Stuhl vor ihrem Sekretär gesetzt, der in der Nähe eines Fensters stand. Sie sah zu dem jungen Mann hinüber, der unschlüssig an der Tür stehen geblieben war und sich umschaute. Sie zeigte schließlich auf einen zweiten Stuhl.
„Nehmt den Stuhl und setzt Euch zu mir.“
Julien kam ihrer Aufforderung zögernd nach. Er war müde und wäre noch lieber in ein Bett gestiegen, um gründlich auszuschlafen.
„Wo ist die Übersetzung?“, fragte er.
„Hier in meinem Zimmer.“
Marie lachte leise, als sie daran dachte, dass Honoré gleich wieder einen Grund haben würde, zu Monsieur Sebastien zu laufen. Mit einem Umweg vielleicht über das Anwesen Jean-Philippes? Aber diesmal, so ging es ihr durch den Kopf, würde er sehr gut aufpassen müssen, damit ihm nichts entging: Marie ließ alle guten Sitten außer Acht, stand auf und schloss die Tür zum Flur ab.
Julien sah ihr mit mühsam unterdrücktem Grinsen zu.
Marie kehrte zu ihrem Rosenholz-Sekretär zurück, zauberte einen Schlüssel aus der Tasche ihres Hauskleides und schloss damit eine der Schubladen auf, die, wie das restliche Möbelstück auch, mit wertvollen Intarsienarbeiten verziert waren.
Dann holte sie die Unterlagen heraus, die Julien sofort als seine Übersetzungen erkannte, winkte ihn näher heran und legte sie vor ihn auf die aufgeklappte Schreibplatte.
Die beiden beschäftigten sich die halbe Nacht lang mit den Texten, die sie in eine qualvolle,
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