Die Rose von Angelâme (German Edition)
Simon sahen einen Männerkopf, der aus einem klaren, detailliert ausgemalten Hintergrund zu ihnen herübersah. Es hätte sich um den Zwillingsbruder des berühmten Herrn mit dem Goldhelm handeln können.
„Aber Sie sind wegen Ihres Gemäldes gekommen“, erinnerte Benetti und ging zu einem Tisch, der inmitten des Raumes stand. Er zeigte mit der ausgestreckten Hand auf ein Bild, das hinter den beiden an der Wand hing. Sie drehten sich um.
Das Bild hatte ungefähr dieselben Maße wie das der Dame im roten Samtkleid und steckte in einem schlichten, vergoldeten Holzrahmen. Der darauf abgebildete Mann saß schräg zum Betrachter und war ebenfalls nur zu drei Vierteln – also bis zu den Knien – zu sehen. Die Farben dieses Bildes ähnelten stark denen des Bildes mit der Dame in Rot, und selbst ein Laie konnte erkennen, dass es vom selben Künstler oder zumindest aus derselben Schule stammen musste.
Christina öffnete ihre Mappe und legte die mitgebrachten Fotos nebeneinander auf die Tischplatte. Signore Benetti beugte sich über die Aufnahmen. Schließlich nahm er eine nach der anderen in die Hand, um sie genauer zu betrachten, und legte sie dann sorgfältig wieder an ihren Platz zurück.
„Das ist zweifellos das Pendant zu dem Bild hinter Ihnen“, sagte er schließlich. „Wie Sie sehen können, trägt meines jedoch keine Signatur. Ich dachte anfangs, dass mein Bild nicht in die Zeit der Gotik passte“, erklärte er weiter. „Allerdings sind Text und Jahreszahl ein Hinweis darauf, dass es aus dem frühen 14. Jahrhundert stammen muss.“ Er stand auf, holte eine Staffelei aus einer Mauernische und klappte sie auf. Dann nahm er behutsam das Gemälde ab und stellte es so darauf, dass sie alle es sehen konnten. „Sehen Sie, die Haltung der Dame im roten Samtkleid auf Ihren Fotos entspricht ungefähr der Haltung der Madonnen auf den Gemälden jener Zeit. Fehlt nur noch das Kind.“ Er zeigte zu einem Bild neben dem geöffneten Fenster, welches eine Madonna mit Kind darstellte. „Der Malstil aber und die Tatsache, dass beiden auf den Bildern die Beine ab den Knien fehlen, sind völlig undenkbar für jene Zeit. Deshalb habe ich mein Bild untersuchen lassen. Es stammt tatsächlich aus dem frühen 14. Jahrhundert. Das haben die Analysen von Farben und Holz ergeben.“
„Und wie sind Sie in den Besitz dieses Bildes gekommen?“, wollte Christina wissen. „Nachdem alle Ihre Bilder eine Geschichte haben?“
Er lachte.
„Dieses Bild gehörte ursprünglich der Familie eines französischen Comte, der es vor mehreren hundert Jahren einem meiner Vorfahren zur Aufbewahrung überbringen ließ. Es war ein Comte aus dem Geschlecht der Angelâmes.“ Sein Blick wanderte von einem zum anderen, als erwarte er, dass sie wüssten, wovon er sprach. Beide aber schüttelten verwirrt den Kopf. „Eine der weiblichen Linien des Königsgeschlechts der Merowinger.“
„Der Merowinger? Ich dachte, dieses Geschlecht sei ausgestorben!“, wandte Christina ein.
„Nur die männliche Linie“, stellte Signore Benetti richtig. „Das Geheimnis Ihres Bildes lässt sich für uns nur lösen, wenn wir das Original haben“, sagte er nach einer kurzen Pause.
„Wir haben die Fotos …“
„Das nützt nicht allzu viel. Um das Geheimnis der Bilder zu lüften, müssten Sie Ihres untersuchen lassen.“
„Das erscheint mir sinnvoll, ja.“
„Ich habe mein Bild bereits untersuchen lassen. Dabei habe ich eine interessante Entdeckung gemacht.“
Während Simon und Christina überraschte Blicke austauschten, zog ihr Gastgeber eine Mappe aus der Schublade des Tisches, die er mit der ihm eigenen Behutsamkeit öffnete und deren Inhalt er vor ihnen ausbreitete. Es waren Fotos seines Bildes und Aufnahmen davon, die mit einer Spezialkamera gemacht worden waren.
Die beiden Besucher beugten sich interessiert darüber.
„Text“, sagte Simon und räusperte sich. „Jemand hat etwas auf die Holzunterlage geschrieben und dann übermalt.“
„Ja.“ Signore Benetti nahm eine der Aufnahmen in die Hand und hielt sie ihnen hin. „Wer auch immer diesen Text hier geschrieben hat, wollte, dass er eines Tages gelesen wird.“
Auf Simons Stirn erschien eine skeptische Falte.
„Wollen Sie damit sagen, dass der Maler davon ausgegangen ist, unsere heutige Technik könne seine Schriftzeichen wieder sichtbar machen?“, fragte Simon mit leisem Spott in der Stimme. Er erinnerte sich an eine ähnliche Szene und zweifelte langsam an dieser ganzen
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