Die Rose von Byzanz
spürte sie nur, wie sich in ihrem Leib etwas zusammenzog. Ein unerträglicher Schmerz.
Ich kann ihn nicht lieben, er mordet.
Jetzt kam er wieder zu ihr, hielt eine Schale mit Essbarem in der Hand. Er hockte sich neben sie, strich ihr das wirre Haar aus dem Gesicht. Abrupt wandte sie den Kopf ab, machte sich ganz hart und schloss die Augen.
„Hast du keinen Hunger?“
Die Antwort kannte er. Sie hatte nie Hunger, nicht solange er neben ihr saß und auf sie einredete. Er verfiel manchmal, wenn er Stunde um Stunde mit ihr geredet hatte, in den Singsang seiner Muttersprache, von der sie kein Wort verstand. Erst dann konnte sie einschlafen, und wenn sie aufwachte, stand die Schüssel mit der kalten Suppe neben ihr, und sie stürzte sich darauf, weil sie ja doch hungrig war. Nur in seiner Gegenwart wurde ihr ständig schlecht, und sie fragte sich, warum er sich so um sie kümmerte. Sie war doch eine Sklavin, oder nicht? Das hatten ihr seine Männer beigebracht, auch wenn das alles in einem grauen Nebel der Vergangenheit verschwand. Doch er war nett zu ihr.
Wenn sie sich nur erinnern könnte, warum das so war.
Nach der Mahlzeit schloss sie die Augen, rollte sich ein, wickelte den Mantel fest um ihren Körper, der seit einigen Tagen auf jede Berührung merkwürdig empfindlich reagierte. Auch das Essen, das man ihr brachte, war nicht immer recht, ihr Magen gab manches Mal alles wieder von sich, und wenn sie die Übelkeit spürte, stürzte sie zur Reling und übergab sich in die dunklen Wasser des Dnjepr.
Fünf Männer waren neu an Bord, oder zumindest glaubte sie, dass sie nicht zur Mannschaft gehörten. Abends hielten sie sich von den Nordmännern fern, kochten ihr eigenes Essen über einem eigenen Feuer, wetzten ihre Dolche und Schwerter und blickten finster zu den Nordmännern herüber. Ihre Sprache war Johanna gänzlich fremd.
„Johanna, sprich doch mit mir.“
Du bist ein Mörder, ich hab’s gesehen. Zweimal habe ich dich morden sehen. Warum tust du das?
„Wir erreichen heute Kiew“, erzählte er. „Dort hoffe ich, bei meinem alten Freund Hallgrim Ragnarsson unterzukommen. Er ist Olufs Bruder, weißt du?“
Wer ist noch mal Oluf? Ich vergesse ja manchmal sogar deinen Namen. Aber du bist nett zu mir. Anders als die anderen, die mich immer nur verkaufen wollen.
„Wir bleiben in Kiew, bis der Winter vorbei ist. Dort hat sich einiges getan in den letzten Jahren, es gibt einen neuen Herrscher. Er ist ein mächtiger Mann.“
Als sie noch immer schwieg, fuhr er sich mit beiden Händen durchs Haar.
„Bitte, Johanna. Bitte. Iss etwas, komm wieder zu Kräften. Tu mir wenigstens den Gefallen. Und dann … Ich würde dich so gerne trösten.“
Sie streckte den Fuß nach der Schale aus, die neben ihm auf dem Boden stand. Trat dagegen, dass der Eintopf über die Planken rann.
„Johanna!“
Seine Geduld riss wie ein Faden. Er war plötzlich bei ihr, seine Hände packten ihren Kopf, seine Finger drückten sich in ihren Schädel, als versuchte er, ihn zu zerquetschen. „Sieh mich an!“
Sie schloss die Augen, weil sie seinem eindringlichen Blick nicht ausweichen konnte.
„Ich verlange nicht, dass du mit mir sprichst, ich weiß, was der Tod mit uns anrichten kann. Glaub mir, ich wollte nicht, dass du mich kämpfen siehst. Ich weiß, wie sehr du das verabscheust. Ich kann nur ahnen, was du in deiner Heimat mit ansehen musstest, ehe du verschleppt wurdest.“
Sie wollte allein sein.
Eine Weile blieb er bei ihr sitzen. Geduldig drückte er ihr immer und immer wieder ein Stück Brot in die Hand. Sie ließ es fallen.
Später rollte sie sich wieder ein und schlief.
Fremde Stimmen weckten sie.
Johanna richtete sich auf. Sie spähte über die Reling.
Eine Stadt erhob sich auf drei Hügeln am Ufer des Dnjepr. Darüber hatte er geredet, nicht wahr? Kiew hieß die Stadt, und hier sollten sie eine Weile bleiben.
Sie atmete auf. Ob sie ihn dann auch jeden Tag sehen musste? Oder ob er ihr eine Unterkunft besorgte, wo sie für sich sein konnte? Sie musste ihn darum bitten, musste mit ihm sprechen.
Aber sooft sie auch versuchte, den Mund zu öffnen und irgendwelche Worte zu sprechen – und sei es nur ihr Name –, kam bloß ein Wimmern heraus.
Sie war verstummt.
Am Landesteg des Hafens sammelten sich Schaulustige, um die Ankunft des Schiffes zu bestaunen. Unter ihnen fiel Johanna sofort eine Frau auf, die sich von den anderen abhob. War es ihr rabenschwarzes Haar, das sie so anders machte? Die Haut, die so viel
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