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Die Rose von Darjeeling - Roman

Die Rose von Darjeeling - Roman

Titel: Die Rose von Darjeeling - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sylvia Lott
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trinken? Er wusste doch selbst, dass es ihm schadete. Sollte sie sagen: Du darfst nicht zurückblicken, nicht sentimental werden? Das klang anmaßend.
    Sie räusperte sich, schaute ihn mit einem Lächeln an. »Ich wollte dir nur noch eine gute Nacht wünschen.«
    Er lächelte, in seinen Augen standen Trauer, Schmerz und Liebe. »Gute Nacht, Katie.«
    Als Kathryn wenig später im Bett lag – das erste Mal seit einer gefühlten Ewigkeit ohne Carl –, fiel ihr der Brief wieder ein, den Mrs Apple ihr gegeben hatte. Plötzlich wieder hellwach holte sie den vergilbten Umschlag aus ihrem Abendtäschchen. Sie stopfte sich ihr Kopfkissen als Rückenlehne zurecht und setzte sich auf. Der Brief war an ihre Mutter adressiert. In kunstvoll verschnörkelter Schrift mit brauner Tinte stand auf dem Umschlag geschrieben: An Miss Annabella McCullen persönlich. Kathryn öffnete ihn und begann zu lesen.
    Darjeeling, im August 1909
    Sehr verehrte, liebe Annabella,
    als langjähriger Justitiar und Freund des Hauses habe ich Ihnen nach dem viel zu frühen Tode Ihrer Eltern anlässlich Ihrer nun bevorstehenden Hochzeit, zu der ich Sie ganz herzlich beglückwünsche, einige Umstände aus Ihrer Familiengeschichte zur Kenntnis zu bringen. Dass Sie das einzige Kind des Teepflanzers Henry McCullen und seiner Ehefrau Emily aus dem Mirik-Tal sind, hat einen Grund: Ihre hochgeschätzte Frau Mutter konnte keine Kinder bekommen. Sie gab daher nach einigen Jahren der kinderlosen Ehe ihr Einverständnis, dass ihr Gatte den Wunsch nach einem Nachkommen anderweitig zu erfüllen suchte.
    Als das aus Nepal stammende Dienstmädchen Bina Chaudhary guter Hoffnung war, begaben sich Ihre Frau Mutter und ebenjene als Zofe auf eine längere Europareise. In Florenz kamen Sie in einem Privatsanatorium zur Welt. Als Mutter wurde Emily Louisa McCullen in die Urkunden eingetragen. Außer mir und nun auch Ihnen hat kein weiterer lebender Mensch Kenntnis von diesen Umständen, und Sie können gewiss sein, dass ich weiterhin Schweigen darüber bewahren werde.
    Mit diesem Brief erfülle ich den letzten Wunsch Ihres Herrn Vaters.
    Hochachtungsvoll …
    Kathryn musste den Brief mehrfach lesen, um dessen Inhalt und Gewicht zu erkennen. In ihren Adern floss nicht italienisches Blut, sondern nepalesisches! Sie war die Enkeltochter eines Dienstmädchens!
    Kathryn ließ den Brief auf ihre Bettdecke sinken. Im Eiltempo durchlebte sie eine wilde Folge von Emotionen. Sie war niederer Abstammung! Sie fühlte sich getäuscht, gekränkt, beleidigt. Dann schämte sie sich ein wenig vor sich selbst. Konnte sie denn beurteilen, was für ein Mensch diese einfache Frau aus Nepal gewesen war? In welcher Notlage sie sich befunden hatte? War sie vielleicht gezwungen worden? Vielleicht hatte sie ihren Großvater aufrichtig geliebt. Vielleicht sogar auch dessen Frau. Vielleicht hatten sie ja sogar eine unkonventionelle, aber glückliche Beziehung zu dritt gelebt! Und wieso sich dafür schämen? Ob Bina noch lebte? Ihre Eltern hatten im September 1909 geheiratet, da war ihre Mutter Annabella zwanzig Jahre alt gewesen. Ihre Großmutter müsste demnach, wenn sie selbst auch etwa zwanzig bei der Geburt gewesen war, jetzt Anfang sechzig sein. Dann konnte sie sich ja noch bester Gesundheit erfreuen.
    Kathryn dachte einen Moment nach. Dann fiel ihr ein, dass der Rechtsanwalt versichert hatte, kein lebender Mensch wüsste außer ihm noch davon. Vielleicht könnte sie ihn sprechen? Allerdings stammte der Brief aus dem Jahr 1909. Der »langjährige Justitiar« war heute, einundzwanzig Jahre später, vermutlich längst verstorben.
    Kathryn stand auf und setzte sich vor den dreiteiligen Spiegel ihrer Frisierkommode. Aufmerksam studierte sie ihr Gesicht. Sah man etwas Nepalesisches darin? Vielleicht die dunklen, kräftigen Augenbrauen? Oder die ovale Gesichtsform? Hatte sie als Einzige in der Familie grüne Augen, weil sie ein Mischling war?
    Sie wusste nicht einmal, welchem Stamm ihre Großmutter angehört hatte. War sie eine Sherpa oder Gurung mit letztlich tibetischen Wurzeln oder vielleicht eine Hill-Bahun, also eher indischen Ursprungs? Über hundert unterschiedliche Volksgruppen lebten in Nepal, die Bevölkerung bildete ein Mosaik aus Minderheiten.
    Ach! Kathryn klappte einen Flügel des Spiegels so heftig zu, dass er einen Sprung bekam. Blödsinn! Sie wurde durch diese Nachricht kein anderer Mensch.
    Oder doch?
    Kathryn kramte in ihrem Gedächnis. Was hatte ihre Mutter ihnen eigentlich von ihrer

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