Die Rose von Darjeeling - Roman
hingen in den Tälern. Vor allem im Westen in Richtung Darjeeling ballte sich Bedrohliches zusammen. Aber es regnete noch nicht, ab und zu sah man sogar Fetzen vom blauen Himmel.
Gustav ritt am Rande des Dschungels zu der Anhöhe, über die Kathryn die Abkürzung zum Teesta genommen hatte, um ihre Expedition einzuholen. Er schaute in Richtung Sikkim. Das Grün leuchtete jetzt vor dem grauen Hintergrund, warm angestrahlt von einer tief stehenden Sonne, und sein Herz zog sich vor Schmerz härter zusammen. Er musste mit einem Kapitel seines Lebens abschließen. Mit dem Abenteuer Darjeeling hatte er seine Liebe verloren und seinen Freund. Und wenn er nun ganz mit dem Leben abschließen müsste, es würde ihm, so glaubte er in diesem Augenblick, nicht viel ausmachen.
Mit gestrafften Zügeln wandte er sich ab, setzte das Pferd mit sanftem Druck wieder in Bewegung. Diesmal wählte er die Strecke über die andere Seite des Tales, die ihn erst durch den Urwald und dann am Dorf entlangführte. Der Wind frischte auf, er blies ihm kräftig ins Gesicht.
Als Gustav kurz vor dem Dorf einen Pferch passierte, in dem die Arbeiter ihre Schafe hielten, stürmte es schon beinahe. Er wusste nicht genau, was es war, doch mit dem Instinkt eines Jägers witterte er auf einmal Gefahr. Verhielten sich die Schafe unruhiger als sonst? Gustav stieg ab und zog sich mit dem Pferd hinter einen Baum zurück, der von buschigem Unterholz umgeben war. Er hatte ein Gewehr von Mr Whitewater dabei – es drohte immer die Gefahr, unterwegs von einem Wildschwein oder auch von einer Banditenbande angegriffen zu werden. Gustav spitzte die Ohren, er hörte angstvolles Blöken, doch der Sturm übertönte mit einem unheimlichen Heulen alle anderen Geräusche. Vielleicht beunruhigte der bevorstehende Monsun die Tiere. Sie verdrehten ihre hervortretenden Augen, drängten sich in einer Ecke des Pferchs zusammen. Er sah keinen Hirten weit und breit. Wahrscheinlich hatte er sich vor dem nahenden Unwetter in Sicherheit gebracht.
Gustav nahm das Gewehr vom Sattel, entsicherte es, blickte sich um und erschrak. Ein Schneeleopard! Die schwarzgrau gefleckte Riesenkatze lauerte in knapp fünfzig Metern Entfernung mit angelegten Ohren und hatte wohl noch keine Witterung aufgenommen – der Wind stand günstig für Gustav. Das Tier schwenkte den Kopf hin und her, ohne die Schafe auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen. Gustav riss das Gewehr hoch und zielte. In diesem Moment sprang der Schneeleopard mit kraftvoller Eleganz über das Gatter. Als er kurz vor den panischen Schafen den Boden wieder berührte, schoss Gustav. Das Raubtier jaulte auf, bemerkte den menschlichen Feind, schaute auf sein verletztes Hinterteil, bewegte Kopf und Vorderbeine vor und zurück, als sei es unschlüssig, ob es die Wunde lecken, angreifen oder sofort fliehen sollte. Gustav, vom Jagdfieber gepackt, schlich näher, immer das Tier im Visier, bis er kurz vor dem Gatter stand. Blut hämmerte in seinen Schläfen, er biss sich auf die Unterlippe.
Der Schneeleopard fixierte ihn, ließ ein lang gezogenes warnendes Knurren hören. Erneut hob er zum Sprung ab, flog mit ausgebreiteten Vorderpfoten direkt auf Gustav zu. Der sah in die schwarz geränderten fahlgelben Augen der Katze, nahm den bestialischen Gestank wahr, der von ihr ausging, sah die Reißzähne im weit aufgerissenen Maul. Das ist ein Tod, der meines Vaters würdig ist, dachte Gustav. Kathryn würde schon sehen, was sie davon hatte, einen Helden zu verschmähen.
Er feuerte noch einen Schuss ab, dann spürte er einen heißen Schmerz in seinem Oberarm und einen Aufprall von ungeheurer Wucht. Gustav sah rote Spiralen, die in Schwärze aufgingen, dann sah er nichts mehr.
Der Wind verwehte die Seiten in dem Buch, das Kathryn mit zum Mangohügel hochgenommen hatte. Sie las nicht, sie dachte auch nicht nach, sie hockte sich ans Grab ihrer Mutter und horchte in sich hinein. Spüren, was ist. So hatte der weise Lama gesagt.
Ja, sie war sich sicher. Sie hatte ihre Entscheidung getroffen.
Der Wind blies stärker, und sie pfiff nach Joshi. Im Galopp ritt Kathryn zurück, übergab ihr Pferd dem Stallburschen. Sie machte die Gegenprobe auf ihrer Bank unterm Rhododendron. Auch wenn sie wusste, dass es schmerzen würde, aber sie brauchte diese letzte Bestätigung. Zu viel stand auf dem Spiel. Dieses Mal konnte sie nicht mehr wie ein trotziges Kind handeln.
Regenwolken verdüsterten den Himmel zunehmend. Eine grünlich graue Färbung ließ die
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