Die Rose von Darjeeling - Roman
eigenen Kindheit berichtet? Von einer Amme, einem Kindermädchen, das auch später im Haushalt der McCullens schaltete und waltete, hatte sie immer gut gelaunt erzählt. Doch der Name war ein anderer gewesen … Bibi. Genau – die Zärtlichkeitsform von Bina. Jetzt fiel es Kathryn wieder ein. Bibi war bereits gestorben, als Annabella noch in einem Mädchenpensionat lebte.
Ob sie noch mehr Kinder bekommen hatte? Von ihrem Großvater oder von einem Nepalesen? Dann lebten heute vielleicht noch Verwandte von ihr im Mirik-Tal. Und was wäre eigentlich, wenn Manjushree von ihrem Vater schwanger würde? Die Kinder von Engländern und Einheimischen – das war seit Jahrzehnten ein Tabuthema. So tabu, dass Kathryn nie darüber nachgedacht hatte.
Ihre Gefühle wirbelten durcheinander. Mal war sie wütend auf ihren Vater, dass er immer noch meinte, sie bevormunden zu können. Dann tief besorgt wegen seines Herzens. Und froh, dass sie sich versöhnt hatten. Dann wieder ärgerlich – er konnte doch nicht einfach riskieren, dass eine mittellose Frau ein Kind von ihm bekam, ihr Halbgeschwister … Und wieder später spürte sie ihre tiefe Liebe zu ihm und Dankbarkeit dafür, dass er ihr erlaubte, mit Carl glücklich zu werden.
In dieser Nacht fand Kathryn lange keinen Schlaf.
Die Antwort aus Deutschland erreichte das Telegrafenamt Darjeeling an nächsten Tag. Carl riss es dem Boten in der Tür seines Hotelzimmers ungeduldig aus der Hand.
»Keine Chance. Lage schlecht. Gruß. Vater«
Carl fluchte.
Nun gut, dann musste er sich eben etwas anderes einfallen lassen. Nach kurzer Zeit siegte seine Zuversicht. Bestimmt würden sich in Deutschland neue Möglichkeiten ergeben.
Carl gab die Kisten auf und ließ sich gleich darauf zurück nach Geestra Valley chauffieren.
»Das kann doch kein Zufall sein, oder?«, fragte Kathryn.
Sie saß mit Carl auf der Bank hinter dem Glaspavillon und hatte ihm alles berichtet: vom Heiratsantrag des reichen Lords und auch, dass ihr Vater schwer herzkrank war, ihre Großmutter eine Nepalesin und dass die Zwangsversteigerung schon in zwei Wochen stattfinden würde. Carl wurde ungehalten.
»Denkst du etwa ernsthaft darüber nach, den alten Taintsworth zu heiraten, damit es die fremden Leute im Dorf ein bisschen besser haben?« Er packte sie an den Schultern, schüttelte sie und schaute ihr in die Augen. »Kathryn, wir lieben uns! Wir gehören zusammen, das größte Glück der Welt ist zum Greifen nah!«
»Ich lieb dich doch auch, aber ich bin völlig durcheinander!«
Sie konnte erst recht nicht klar denken, wenn er sie so anschaute. Kathryn machte sich los und setzte sich auf die Schaukel. Unruhig kippelte sie hin und her, zog mit den Schuhspitzen Bahnen durch den Sand unter ihren Füßen.
Carl versuchte es mit sachlichen Argumenten. »Ein solches Opfer wäre völliger Unsinn. Wenn Indien demnächst unabhängig wird, müsst ihr Engländer ohnehin das Land verlassen …«
Kathryn schüttelte den Kopf. »Dazu wird es so bald nicht kommen. Das dauert mindestens noch eine Generation.«
»Woher willst du das wissen?«
»Die Krone entlässt Indien nicht freiwillig. Eine britische Regierungskommission, die drei Jahre lang Material gesammelt und sich beraten hat, gab gerade das Ergebnis bekannt: Indien ist noch nicht fähig, sich selbst als unabhängiges Land zu regieren.«
Carl spuckte verächtlich aus. »Solche Ergebnisse sind parteiisch und gelenkt. Ist doch klar. Du kannst nicht wirklich unsere Zukunft von einem dämlichen manipulierten Kommissionsbericht abhängig machen!«
»Nein, natürlich nicht!«, antwortete sie gequält. »Da kommt eben vieles zusammen … Wir haben uns doch darüber unterhalten, dass niemand nur für sich allein verantwortlich ist. Dass es Verpflichtungen gibt …«
»Ja. Aber wir leben in modernen Zeiten. Wir müssen nicht die Jugend unserer Eltern nachleben.«
»Hast du nicht selbst gesagt, wir hätten etwas aus der Vergangenheit in die Zukunft weiterzugeben?«
»Herrje! Das heißt aber nicht, dass wir unbedingt einem vorgezeichneten Weg folgen müssen. Ich bewundere jeden Menschen, der seinen eigenen Weg geht und nach seinen eigenen Regeln handelt!«
»Dann könntest du auch mit eurer vierhundert Jahre alten Tradition brechen?«
»Im Prinzip ja, aber in diesem Fall entspricht der vorgezeichnete Weg genau dem, was ich am liebsten machen möchte.«
Sie schwiegen. So hatten sie noch nie miteinander gesprochen. Kathryn fragte sich, ob Carl für sie auf seinen
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