Die Rose von Darjeeling - Roman
Umgebung seltsam unwirklich erscheinen. Kathryn schloss die Augen, wieder horchte sie in sich hinein.
Ja, so stimmte es.
Sie spürte plötzlich etwas Warmes in ihre Hand schlüpfen. Als sie die Augen öffnete, sah sie, dass es die klebrige Hand eines kleinen nepalesischen Mädchens war, das sie mit großen Mandelaugen anblickte. An der anderen Hand hielt es ein Brüderchen, das gerade gehen lernte.
»Märchen, Memsahib?«, sagte das Mädchen erwartungsvoll lächelnd. Sie wollte Kathryn zum Glaspavillon ziehen. »Musik, Memsahib!«
»Heute nicht«, vertröstete Kathryn es. »Gleich gibt es Regen. Geht schnell nach Hause!«
In diesem Moment hörte Kathryn einen Schuss. Sie war sich nicht sicher, aus welcher Richtung er kam, weil der Wind sich verstärkt hatte. Kathryn rannte auf den Vorplatz der Manufaktur zu. Der Verwalter stürzte aus seinem Büro. Da folgte ein zweiter Schuss.
»War das im Dorf?«
»Vielleicht Jäger?«
»Bei dem Wetter?«
»Ich reite los …«
»Nein, warten Sie …«
Der Verwalter holte sein Pferd, als einige der Arbeiter herbeigelaufen kamen. »Schneeleopard!«, rief einer von ihnen, »deutscher Sahib tot!«
Nur wenig später zogen zwei Männer mit einem Handkarren über den Hügel. Sie hatten eine Leiter daraufgelegt und Gustav festgebunden.
Kathryn riss dem Verwalter die Zügel aus der Hand, bestieg sein Pferd und ritt ihnen entgegen. Mit einem Satz sprang sie ab. Sie hob Gustavs Augenlid hoch, fühlte seinen Puls.
»Er lebt!« O lieber Gott, vielen Dank, vielen Dank! »Bringt ihn zur Krankenstation.«
Als Gustav wieder zu sich kam, blickte er in das Gesicht eines Engels … Kathryn. Besorgt und liebevoll beugte sie sich zu ihm hinunter.
»Bin ich schon im Himmel?«
Erleichtert lachte sie auf. »Nein, wir leben noch! Aber der Schneeleopard ist tot.«
Die Neugierigen, die vor der kleinen Krankenstation gewartet hatten, zogen beruhigt wieder von dannen.
»Auch gut …«
»Du müsstest bald wieder auf dem Damm sein. Abgesehen von ein paar Prellungen hast du nur eine Fleischwunde am linken Oberarm. Ich hab sie desinfiziert und verbunden. Zum Glück bist du gegen Tetanus geimpft.« Sie grinste. »Die Krallenspuren werden dekorative Narben hinterlassen, damit kannst du bis an dein Lebensende die Damenwelt beeindrucken.«
Gustav grinste zurück, setzte sich auf.
Sie ergriff seine Rechte, legte ihm ihre linke Hand auf die Schulter. »Danke!«
Verlegen und beglückt führte Gustav ihre Hand an seine Lippen, um einen Kuss darauf zu drücken. »Ich danke dir.«
Kathryn wandte sich ab. »Kannst du aufstehen? Oder hast du vielleicht Kopfschmerzen, wird dir schwindlig? Dann leg dich lieber noch eine Weile nach nebenan, du könntest eine leichte Gehirnerschütterung haben.« Mit dem Kinn wies sie aufs zweite Zimmer der Krankenstation, durch die geöffnete Tür sah man ein Krankenbett. »Ist frisch bezogen.«
Gustav stand vorsichtig auf. Er fasste sich prüfend an den Kopf.
»Nein, alles gut. Aber ich könnte jetzt einen Schluck vertragen auf den Schreck.«
»Klar!«
Kathryn hatte immer Whisky in der Krankenstation. Er gehörte ebenso wie Gin und Chinin zur medizinischen Grundausstattung einer Pflanzerapotheke. Sie schenkte zwei Scotch ein, goss in ihr Glas noch etwas Wasser.
»Für mich pur, bitte«, sagte Gustav.
Sie setzten sich ans Fenster, zwei einfache Stühle standen dort an einem Tischchen. Der Wind hatte sich gelegt, schwere Wolken hingen beinahe unbewegt am Himmel.
»Sieht ziemlich düster aus.«
Gustav nahm einen großen Schluck. Er genoss, wie das Brennen den Hals hinunterlief. Der Whisky schmeckte nach Nordsee und rauem Klima. Plötzlich freute er sich auf Ostfriesland, auf lange Spaziergänge am Deich mit Blick aufs weite Meer.
»Ich hoffe, dass Carl in Darjeeling bleibt«, sagte Kathryn besorgt. Sie entzündete eine Kerze, die sie auf einer Teeuntertasse mit verblichenem Blümchenmuster festtropfen ließ und auf den Tisch stellte. »Manchmal dauert es zwar Tage, bis der Regen losbricht. Aber wenn man ausgerechnet dann gerade unterwegs ist …« Entschlossen kippte sie ihren Drink hinunter, der sie gleich von innen wärmte und etwas beruhigte.
»Carl ist ein Sonntagskind«, sagte Gustav bitter.
»Tatsächlich?«
»Ja, er kam wirklich an einem Sonntag zur Welt. Sonntagskindern passiert nichts, sagt seine Mutter immer.«
»Noch einen?«, fragte Kathryn.
Gustav nickte. »Der Leopard stank bestialisch.«
»Er hatte einen abgebrochenen, vergifteten Bambusspeer in
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