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Die Rose von Darjeeling - Roman

Die Rose von Darjeeling - Roman

Titel: Die Rose von Darjeeling - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sylvia Lott
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nicht mit jeder Art klappte. Andere durch Absenkung einzelner Zweige, die bereits Triebe aufwiesen, unter die Erde, wo sie nach einer Weile feine Wurzeln austrieben und irgendwann abgetrennt werden konnten. Auch das funktionierte nicht immer. Wieder andere vermehrte er durch Veredelung – er pfropfte die Reiser auf bereits drei Jahre alte sogenannte Unterlagen, also auf den Grundstamm erprobter, robuster Rhododendren wie ›Cunningham’s White‹ . All diese Versuche erforderten viel Wissen, Zeit und Geduld.
    Die viel größere Herausforderung bestand nicht in der Vermehrung, sondern in der Züchtung. Carl probierte auch bei der Kreuzung neuer Hybriden unterschiedliche Methoden aus. Ob die Pollen aus Sikkim noch fruchtbar waren, musste die Zeit zeigen. Carl wartete einen besonders schönen sonnigen Morgen ab, um damit einige spätblühende Sorten zu bestäuben. Das war eine aufregende Prozedur. Zuerst spannte er im Gewächshaus große weiße Baumwolllaken auf.
    Als ein Gärtnerlehrling die Glastür offen ließ, fuhr er ihn an. »Bist du von allen guten Geistern verlassen, Bruno?«
    Der Junge erschrak. Was sollte so schlimm daran sein, wenn ein bisschen frische Luft hereinwehte?
    »Hierher darf sich jetzt keine Biene verirren«, erklärte Carl, dem sein barscher Ton leidtat. »Wenn sie mit fremden Pollen diese ausgewählten Blüten befruchtet, können wir die ganze Kreuzungsserie auf den Kompost werfen. Verstehst du? Und jetzt raus hier. Stell dich vor die Tür und pass auf, dass nicht auch nur eine winzige Mücke reinfliegt!«
    Carl nahm wieder Pinsel und Lupe in die Hand. Vorsichtig tupfte er nach und nach die zuvor in Pollen getauchten Pinselhärchen auf die Blütenstempel.
    »Halt! Der Juniorchef bestäubt gerade!«, wehrte Bruno unterdessen mit wichtiger Miene den Kalfaktor Hinnerk ab, der das Gewächshaus betreten wollte.
    Endlich war der Schöpfungsakt beendet. Carl hätte zufrieden sein können. Aber irgendetwas fehlte noch. Irgendeine Inspiration, eine Komponente, die er nicht bedacht hatte. Er kam nicht darauf, was es sein sollte.
    Ungeduldig wartete Carl auf die Samen, die im Herbst mit der Post kommen sollten. Davon versprach er sich am meisten, auch wenn der Weg über die Aufzucht mit Samen der langwierigste war. Er hoffte, dass der Lepcha-Mann Wort hielt. Die kriechenden Rhododendren aus vier- bis fünftausend Metern Höhe versprachen ein einträgliches Geschäft, weil gerade Steingärten sehr populär wurden, und dafür passten sie ideal. Aber auch besondere Blütengröße, Eleganz und Farben wurden vom Publikum bewundert. All das würde Carl züchten!
    Sein Vater las abends in seinem lindgrünen Polstersessel direkt neben dem Volksempfänger das Neueste aus der Fachzeitschrift Die Gartenwelt vor. Meistens ging es in den Berichten leider um Absatznot und Überproduktion deutscher Rhododendren, also musste sein Unternehmen erfolgreich werden.
    Im Spätsommer erhielt Carl Kathryns offizielle Vermählungsanzeige mit geprägtem Wappen und dunkelgrüner verschnörkelter Schreibschrift auf Büttenpapier.
    »Meine Herren, sieht das vornehm aus!«, sagte seine Mutter, die ihm über die Schulter sah.
    Carl aber las gar nicht richtig. Er verschwand am darauf folgenden Wochenende zu einer ausgedehnten Wanderung im Moor. Nach stundenlangem Marsch stand er vor einem der Sümpfe, aus denen man schon ab und zu eine Moorleiche gezogen hatte, die dann im Naturhistorischen Museum in Oldenburg ausgestellt wurde. Carl wippte in den Knien: Der von Moos und Wollgras bewachsene Torfboden unter ihm federte um mehrere Zentimeter nach. Nur einen Schritt weiter, hinter strohigen Pfeifengras- und dunkelgrünen Binsenbüscheln begann, für Ortsfremde kaum erkennbar, das flüssige Moor.
    Die Hitze schien vom Boden aufzusteigen, die Luft flirrte. Vierflüglige Libellen umflogen kleine, fleischfressende Sonnentaupflanzen mit ihren klebrigen Tröpfchen. Der Wind trug den Geruch einer späten Heuernte mit sich und brachte das Laub vereinzelter Birken zum Rascheln. Ansonsten hörte Carl nur das Summen von Insekten. Weit und breit kein von Menschen rührender Laut.
    Carl spürte eine unheimliche Energie.
    Die ältesten Moorleichen waren missgebildete Kinder gewesen, ausgestoßen rund zweitausend Jahre zuvor. Später waren Napoleons Soldaten durch das Moor marschiert. Manche Magd, die ein uneheliches Kind erwartete, hatte sich hier aus Angst vor der Schande das Leben genommen, mancher Großbauer hatte Unerwünschtes versenkt.
    Ganz

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