Die Rose von Darjeeling - Roman
langsam sackte man ein ins Moor. Der Sog zog nächtliche Wanderer, die von gespenstischen Irrlichtern aus Naturgas vom Wege abgebracht worden waren, wie unter einem Zeitmikroskop hinab. Zum Schluss, so wussten alte Leute zu erzählen, sah man nur noch die Arme aus der breiigen braunen Masse ragen und dann nur noch eine gespreizte Hand zucken. In ihrer Jugend hatten Carl und Gustav einmal mit einer Leiter ein halb eingesunkenes Schaf gerettet.
Ein Schritt nur, und alle Qualen hätten ein Ende. Carl ging in die Knie.
Kathryn, seine Kathryn, war jetzt die Frau eines anderen! Ein anderer Mann durfte ihre zarte Haut streicheln, seine Nase in ihrem Haar vergraben, sie küssen, lieben und ihr Lust verschaffen. Dieser blaublütige Greis durfte sie jeden Morgen beim Aufwachen anschauen, mit ihr lachen, weinen, seinen Alltag, seine Gedanken und Pläne teilen. Ein anderer würde der Vater ihrer Kinder werden.
Carl glaubte, dieses Gefühl keine Sekunde länger ertragen zu können. Er brüllte seinen Schmerz hinaus in die Weite der Natur.
Am späten Sonntagabend kehrte er zurück.
»Wo warst du, Junge?« Seine Mutter hatte sich Sorgen gemacht.
»Ich hab eine Stelle ausfindig gemacht, wo wir gute Torferde für unsere Rhodos herholen können. Hinnerk kann morgen gleich mit dem kleinen Fuhrwerk hin.«
Carl schickte Glückwünsche zur Hochzeit und in einem silbernen Rahmen das Foto, das Kathryn auf einer Teekiste stehend beim Herumalbern mit ihm und Gustav als ihre treuen Adjutanten zeigte. Er hatte überlegt, ob er Gustav abschneiden sollte, aber das wäre ihm dann doch zu kleinlich erschienen. In der Lokalpresse hatten sie sich sogar noch eine Weile als die Blutsbrüder feiern lassen, die gemeinsam eine abenteuerliche Reise unternommen hatten. Das hatte ihnen einen gewissen regionalen Ruhm eingebracht, der beiden fürs geschäftliche Renommee nützte. Doch der private Kontakt war abgebrochen. Carl konnte das maliziöse Grinsen einfach nicht mehr ertragen, das Gustav aufsetzte, sobald es um Kathryn ging. Und Gustav fand, dass Carl sich reichlich undankbar aufführte. Schließlich hatte er ihm das Leben gerettet.
Auch Gustav erhielt die Vermählungsanzeige.
»Denen konnte es ja nicht schnell genug gehen«, murmelte er bitter.
Er leitete inzwischen die Teefirma und hatte alle Hände voll zu tun. Sein Großvater hatte ihm die Geschäfte gleich nach seiner Rückkehr aus Indien übergeben. Der alte Herr hatte genug gearbeitet, eine Generation länger als ursprünglich geplant. Und da er immer davon geträumt hatte, einmal im Leben Capri zu sehen, führte ihn seine erste Reise im Ruhestand auf die italienische Insel. Dort war er nach einem Besuch der Blauen Grotte in den Armen einer italienischen Edelprostituierten gestorben.
Gustav warf die Karte bedächtig in den Kamin. Der Schmerz leckte an seinen Eingeweiden wie das Feuer am handgerissenen Büttenpapier. Gustav sagte es laut: »Vorbei ist vorbei.«
Er musste sich jetzt der Zukunft widmen. Der Zukunft von ter-Fehn-Tee, des deutschen Teehandels allgemein und der Zukunft Deutschlands.
Darjeeling – Jersey
Sommer 1930 bis Sommer 1931
Nach einer auffallend kurzen Verlobungszeit heirateten Lord Taintsworth und Kathryn standesamtlich in Darjeeling mit einer kleinen Feier im Planters’ Club. Dabei bat die Braut Mrs Apple um einen Gefallen, den jene erst im Herbst erfüllen konnte. Die kirchliche Trauung fand Wochen später auf Jersey in einer alten Dorfkirche statt.
Kathryn hatte Alfred gebeten, Aashmi und Mr Singh in ihre neue Heimat mitnehmen zu dürfen. »Diese Menschen sind für mich ein Stück alte Heimat«, begründete sie ihren Wunsch.
Alfred fand, sie hätten ausreichend Personal in Greenville Manor, aber er konnte seiner jungen Frau kaum etwas abschlagen. Vor allem, seit sie ihm die Ursache für ihre fast ununterbrochene Übelkeit anvertraut hatte. Er wurde Vater – mit dreiundfünfzig Jahren!
Dass Mr Singh im Gefängnis gewesen war, erzählte Kathryn ihm nicht. Dass Aashmi nie gelernt hatte, in einem kultivierten Haushalt nützlich zu sein, verschwieg sie ebenfalls. Das Schicksal der beiden Liebenden bewegte Kathryn ganz einfach. Aufgaben für sie würden sich schon finden.
Das alte Herrenhaus auf Jersey flößte Kathryn größten Respekt ein. Hoffentlich war sie den Anforderungen gewachsen! Als sie den Park des Anwesens, der von zwölf Gärtnern in Ordnung gehalten wurde, das erste Mal durchschritt, fühlte sie sich auf eigenartige Weise mit Carl verbunden.
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