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Die Rose von Darjeeling - Roman

Die Rose von Darjeeling - Roman

Titel: Die Rose von Darjeeling - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sylvia Lott
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glänzenden Messinggewichten war Carl seltsam vertraut. Er kannte diese aus Holland stammende Uhr. Schon als kleinen Jungen hatte sie ihn fasziniert – ein technisches Wunderwerk aus der Zeit des Barock, das ihnen Gustavs Großvater einmal erklärt hatte. Im Halbrund über dem Ziffernblatt auf einer gemalten Meerlandschaft bewegten sich mit jedem Sekundenschlag drei aus Messing gehämmerte Segelschiffe auf den Wellen vor- und zurück. Halb zwölf mittags. Die Glocke schlug mit hellem Pling. Genau wie damals.
    Ratlos sahen die Männer sich an. Was war nicht alles passiert seit ihren Kindertagen, als sie sich immer zur Blauen Stunde am Brunnen getroffen hatten!
    Carl wusste heute, wie hoch der Mond war – so endlos wie seine Sehnsucht nach Kathryn. Und er ahnte, wie tief der Brunnen war – wie die Abgründe im Menschen, selbst in jenen, denen man einmal bedingungslos vertraut hatte.
    Auch Gustav berührte die sentimentale Stimmung, die mit dem Glockenklang durchs Zimmer schwebte. Er vermisste die Freundschaft mit Carl aufrichtig. Manchmal träumte er, sie wären wieder gemeinsam unterwegs. Zwei schneidige Kerle, die Freud und Leid miteinander teilten. Neulich, nach einer Harzwanderung, als es schon dämmerte, hatte er sich gedankenverloren umgedreht in der Erwartung, Carl marschiere selbstverständlich neben oder gleich hinter ihm. Doch niemand war da gewesen. Und das hatte ihm Tränen in die Augen getrieben.
    Abgesehen vom missratenen Ende ihrer Darjeeling-Reise stand heute noch etwas ganz anderes zwischen ihnen. Gustav hatte sich eingelassen auf die neuen Machthaber, er unterstützte sie durch seine Parteimitgliedschaft und durch seine Arbeit im Berufsverband. Das Männerbündische der Nazi-Organisationen ersetzte ihm die Freundschaft mit Carl. Ja, es erhöhte in seinen Augen noch den Wert von Freundschaft über das rein Private hinaus. Und das hatte er doch gewollt, damals als sie dem Lama ihre Lebensziele offengelegt hatten: Großes bewegen, Einfluss nehmen. Lediglich mit der Dynastie hatte es noch nicht geklappt. Nur ein Mädchen. Und Ivy zeigte sich nicht sehr entgegenkommend. Doch das behielt Gustav für sich. Er hatte keinen Freund mehr, mit dem er über Intimes sprechen konnte.
    »Auf das Wohl der Volksgemeinschaft!«, prostete er zum Abschied pathetisch.
    »Tschüss, Justav«, antwortete Carl aus Trotz extra salopp.
    Als er durch die Augusthitze nach Westerstede zurückfuhr, öffnete er das Autofenster so weit es ging. Über den sattgrünen Weiden flirrte die Luft. Die schwarz-bunten Kühe erschienen ihm wie eine Fata Morgana. Es war jedoch nicht nur die Augusthitze, die ihm zu schaffen machte. Carl fühlte sich zwar erleichtert wegen seines Vaters, doch auch tieftraurig.
    Seine Eltern saßen am runden Holztisch in ihrer schattigen Lindenlaube. Sie wohnten jetzt in einem kleineren, neu gebauten Häuschen neben dem Haupthaus, in dem Carl mit seiner Frau Gesine und Tochter Kathrin lebte – und seit ein paar Tagen auch mit Baby Gerdchen. Carls Eltern hatten sich einen pflegeleichten eigenen Garten mit viel Rasen und Ziergehölzen angelegt. Der imposante Steingarten mit einem Bächlein und einer kleinen Brücke diente auch als Schaugarten für Kunden. Die Großfamilie Jonas nahm alle Mahlzeiten gemeinsam ein, und da Carls Eltern nie etwas anderes als Arbeit kennengelernt hatten, packten sie auch beide weiter kräftig mit an. Allerdings gönnten sie sich eine längere Mittagspause.
    Friedrich-Wilhelm Jonas las, wie stets nach seinem Mittagsschlaf, in der Lokalzeitung Der Ammerländer. Carl betrachtete seinen Vater. Er war immer noch ein stattlicher Mann, wenn auch die Haare schütter geworden, das gerötete Gesicht und die Hände von der Baumschularbeit vorzeitig verwittert waren. Von ihm hatte er die intensiv blauen Augen.
    Carls Mutter trug eine gestärkte Blaudruckschürze, hatte auf dem Schoß eine Schüssel und vor sich auf dem Tisch einen großen Topf stehen. Sie entsteinte Schattenmorellen, die sie nachher zusammen mit der Haushälterin einkochen wollte. Der Vorratskeller mit den Regalen voller bunt gefüllter Weckgläser war immer schon ihr ganzer Stolz gewesen.
    Carl setzte sich zu seinen Eltern. Er stibitzte eine Handvoll Früchte aus dem Erntekorb. »Die Sache ist erledigt«, sagte er und spuckte einen Kern in die Hecke. »Kostet uns fünf ausgewachsene Eichen für die Gauleitung Weser-Ems.«
    »Pffhht!« Sein Vater grummelte Verächtliches von »Proleten« und »Pack« und »Bald ist der Spuk doch

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