Die Rose von Darjeeling - Roman
hatte oft das Gefühl, eine Macht, auf die sie keinen Einfluss hatte, kehre alles Unglück in ihr zusammen zu diesen Graue-Tage-Häufchen, damit sie den Rest der Zeit unbeschwerter und glücklicher sein konnte.
Wer Kathryn am nächsten Tag frisch und ausgeruht die Treppe hinunterlaufen sah, hätte nicht für möglich gehalten, dass diese gut aussehende, tatendurstige Frau noch wenige Stunden zuvor durch die Hölle gegangen war.
Ihr neu gegründeter »Arbeitskreis für sanfte Heilmethoden« erwartete sie unten in der Halle. Gemeinsam gingen sie in den Westflügel des Herrenhauses, um über ihre nächsten Aktivitäten zu beraten. Vor einiger Zeit hatte Kathryn dort eine »Apotheke Gottes« eingerichtet, sie präsentierte jetzt das Angebot. Jeder Einwohner ihrer Gemeinde, der mit einem Alltagsleiden zu kämpfen hatte, konnte vorbeikommen und sich von einer geschulten Mitarbeiterin kostenlos naturheilkundliche Tees, Tropfen, Kräuterkissen oder Öle abholen.
Das Wissen des Lepcha-Schamanen hatte Kathryn so beeindruckt, dass sie den Arbeitskreis zur Erforschung traditioneller Heilweisen mit heimischen Pflanzen ins Leben gerufen hatte. Den Vorsitz hatte der örtliche Apotheker übernommen, der aus einer normannischen Familie stammende Louis Laurent. Er war erst Anfang dreißig, noch unverheiratet und ein großer Bewunderer Kathryns. Sie ließ sich seine Schwärmerei gern gefallen, tat aber so, als bemerke sie sie nicht. Zu ihrem leisen Erstaunen zeigte sich Alfred nicht die Spur eifersüchtig. Monsieur Laurent brachte die Jugendlichkeit in ihr Leben, die Alfred und seinen Freunden fehlte. Von ihm lernte sie auch eifrig den französischen Dialekt, in dem viele Insulaner immer noch sprachen, das Patois, denn sie wusste, dass die Sprache ihr am besten Zugang zu den Einheimischen verschaffte.
Wo es ging, unterstützte der Apotheker die junge Lady, die oft diskret half, wenn Menschen in Not geraten waren. Sie bat die Betroffenen stets, Stillschweigen darüber zu bewahren, aber es sprach sich natürlich trotzdem herum.
Einmal bat sie ihn um Rat für eine Landarbeiterfrau, die bereits ihr zwölftes Kind zur Welt gebracht hatte und völlig erschöpft war. Er erteilte Kathryn praktische Ratschläge zur Empfängnisverhütung, die sie an diese und später auch an andere Frauen in Not weitergab. Dabei machte er sie mit Heilpflanzen vertraut, die das Schwangerwerden zumindest erschwerten, erklärte ihr Wirkungsweisen, Anwendungen und Dosierungen. Kathryn nutzte ihr Wissen auch für sich selbst, zwei Kinder reichten ihr. Ihre Aufgaben lagen jetzt auf einem anderen Gebiet. Sie konnte helfen.
Als Monsieur Laurent Kathryn einmal für ihre Wohltätigkeit lobte, gestand sie ihm: »Mein Lieber, das ist der pure Egoismus. Ich brauche das freudige Aufflackern in den Augen der Menschen. Meine Seele ernährt sich davon wie ein Vampir von Blut.« Sie lächelte. »Ganz ehrlich, wenn die Leute wüssten, wie gut es tut, würden sie viel mehr Gutes tun!«
Kurz entschlossen entwickelte der Apotheker daraus einen Werbeslogan für ihre jährliche Wohltätigkeitstombola: Gutes tun tut gut.
Kathryns Tage waren ausgefüllt, und es gelang ihr manchmal, mit ihrem Engagement für weniger Privilegierte ihre Sehnsucht nach Carl wenigstens zu betäuben.
Ammerland
Frühsommer 1939 bis Sommer 1940
Gustav und Ivy schritten die Reihen blühender Rhododendren in der Baumschule Jonas ab.
Ivy zeigte auf die besonders spektakulären Exemplare. »Ich will einen Farbenrausch!«, rief sie mit hoher Stimme und tänzelte, schmalhüftig wie eh und je, in ihrem großstädtischen Nadelstreifenkostüm auf wildledernen Plateauabsätzen von einer Azalee zur nächsten.
»Das sind alles sommergrüne Azaleen«, bemerkte Gesine. »Die gehören zwar auch zu den Rhododendren, aber sie werfen eben im Winter ihre Blätter ab. Wollt ihr das? Wie wichtig ist euch denn eine immergrüne Belaubung?« Gesine hatte für den Besuch der ter Fehns ihr bestes Alltagskleid angezogen, damit Carl sich ihrer nicht zu schämen brauchte. Die Kittelschürze, die sie sonst immer darüber trug, hatte sie an diesem Tag weggelassen. Aber sie fühlte sich wie eine Milchkuh neben einem Rennpferd. Das weltgewandte Auftreten der berlinernden Dame aus Bremen bereitete ihr Unbehagen. Deshalb zog sie sich auf das Fachwissen zurück, das sie sich mittlerweile angeeignet hatte. »Diese roten Sorten hier sind auch nur bedingt winterhart.« Sie wies auf eine niedrige, weiß blühende Sorte. »Diese Wildart
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