Die Rose von Darjeeling - Roman
zum Abendessen rief, zu dem auch Carls Eltern erwartet wurden. Es gab Maischolle mit Maibockbier.
Sie mieden Themen, die zu einem politischen Streit hätten führen können. Vorsichtig sprachen die Männer schließlich darüber, ob es Krieg geben würde oder nicht.
Gustav war überzeugt davon. »Unter uns: Ich bereite im Verband die Einführung und Organisation von Bezugsscheinen für Tee mit vor. Wenn es Lebensmittelkarten geben wird, dann wird ja wohl mit Knappheit gerechnet. Der Grund für Versorgungsschwierigkeiten kann nur ein Krieg sein.«
Im August 1939 erhielt Carl seinen Gestellungsbefehl. »Jetzt ist es so weit«, sagte er mit dumpfer Stimme und ließ sich aufs Sofa sinken. Das blieb sein einziger Kommentar.
Carls Mutter sagte zum Abschied: »Vergiss nicht, du bist ein Sonntagskind.«
Carls Töchterchen Kathrin blies für ihn auf ihrer Mundharmonika Muss i denn, muss i denn zum Städtele hinaus … Gerdchen juchzte. Er verstand gar nicht, warum sein Vater auf einmal so betrübt war.
Gesine hatte ein Foto von sich und den Kindern machen lassen. »Hier«, sagte sie, »damit du uns nicht vergisst.«
Am 1. September begann der Zweite Weltkrieg.
Immer wenn Carl in Kriegsjahren das Familienfoto betrachtete, bedauerte er, dass er nicht mehr Zeit mit seinen Kindern verbracht hatte. Dass er, wie es üblich war unter ganzen Kerlen, auch geglaubt hatte, er könnte erst etwas anfangen mit dem Nachwuchs, wenn er alt genug wäre. Alt genug wofür?, fragte er sich, als um ihn herum Maschinengewehre, Panzer und Granaten alles zerstörten. Alt genug zum Lieben und Geliebtwerden war jeder Mensch vom ersten Atemzug an. Jeder Säugling war schon vollkommen – zum Streicheln, Schmusen und Lachen, zum Sichkümmern, Sorgen und Spielen war es nie zu früh. Wieso hatte er das für so gering erachtet?
Friedrich-Wilhelm Jonas, der Senior, übernahm wieder die Bürde der Verantwortung, Gesine stand ihm tatkräftig zur Seite. Carl schrieb Feldpostbriefe aus Polen, schickte Pakete mit Champagner und Stoffen aus Frankreich, dann wurde er an die Ostfront versetzt, und die Abstände zwischen den Lebenszeichen, die seine Familie erreichten, vergrößerten sich.
Gesine hatte nicht eine unbeschwerte Minute mehr, sie tat keinen Atemzug ohne Sorge um ihren Mann. Alle hofften, dass Carl den Krieg unbeschadet überlebte.
Jersey
Juni 1940
»Die Krauts kommen immer näher«, sagte Lord Alfred besorgt.
Er schenkte Kathryn und sich Brandy aus der Kristallkaraffe ein. In kurzer Zeit hatte die Deutsche Wehrmacht Luxemburg, die Niederlande, Belgien und halb Frankreich überrollt. Sie befand sich auf dem Marsch in Richtung Kanalküste.
»Es ist absurd«, sagte Kathryn und wurde blass. »Ich habe Freunde unter den Deutschen, und die Vorstellung, dass sie auf Engländer schießen und Engländer auf diese Freunde …«
Alfred sah sie scharf an. »Sag so etwas nie mehr laut. Die Nazis sind bald hier.«
Kathryn dachte, träumte, hoffte und fürchtete insgeheim, dass Carl und Gustav unter den feindlichen Soldaten wären und dass sie sich bald durch einen unglaublichen Zufall wiederbegegnen würden. Was dann?
»Churchill wird die Kanalinseln nicht verteidigen lassen«, sagte Alfred ernst. Er räusperte sich. »Er möchte, dass ich nach London in seinen Beraterstab komme.«
Kathryn sah ihren Mann mit großen Augen an. »Was bedeutet das?« Sie wusste, dass Alfred Sir Winston Churchill aus dem Ersten Weltkrieg kannte. Der neue Premierminister Großbritanniens hatte erst vor nicht allzu langer Zeit, am 13. Mai 1940, in seiner Antrittsrede angekündigt: »Ich habe nichts zu bieten als Blut, Mühsal, Tränen und Schweiß.« Drei Tage zuvor hatten die Deutschen ihre Großoffensive an der Westfront eröffnet.
»Es ist eine große Ehre, wenn er mich ruft. Ich will der Krone dienen.« Alfred wusste bereits mehr, als offiziell bekannt war. »Jersey wird entmilitarisiert, um die Bevölkerung nicht zu gefährden. Wenn wir alle Soldaten abziehen, haben die Krauts keine Veranlassung, Bomben auf Jersey zu werfen.« Sicher hatte der Regierungschef diese Entscheidung mit dem König abgesprochen, denn ihm gehörten als »Herzog der Normandie« die Kanalinseln gewissermaßen privat. »Außerdem«, sagte der Lord, »außerdem soll die Bevölkerung evakuiert werden. Auf freiwilliger Basis.«
Kathryn war schockiert, dass sie ihr Zuhause, ihre neue Heimat, kampflos den Feinden überlassen sollte. Und zugleich drängten sich Bilder in ihr Bewusstsein, die Carl
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