Die Rose von Darjeeling - Roman
Ewigkeit, und wir werden uns ganz gewiss wiedersehen. In diesem oder in einem anderen Leben.
Sie wälzte sich im Bett und grübelte. Durfte man eine große Liebe einfach ziehen lassen? Gab es nicht auch so etwas wie eine Verpflichtung gegenüber dem Schicksal, wenn es einem schon bescherte, worauf andere Menschen bis an ihr Lebensende vergeblich warteten … Hätte sie nicht dieses Geschenk annehmen müssen – ohne Bedenken, ohne Bedingungen, ohne zu fragen? Was bildete sie sich eigentlich ein? Dass sie ihr eigenes Leben lenken konnte? Freier Wille – was für ein Hohn! Wie glücklich hätte sie wohl werden können?
Seit Kathryn Darjeeling verlassen hatte, gab es aber noch einen anderen Traum, der sich immer und immer wiederholte. Ein Mann, dessen Gesicht sie nicht erkennen konnte oder wollte, nicht Carl, das wusste sie ganz sicher, begehrte sie. Er presste sie an sich und schlief mit ihr. Wild, leidenschaftlich, hemmungslos. Wenn Kathryn diesen Traum hatte, erlebte sie häufig im Schlaf einen Orgasmus. Gelegentlich wurde sie auch kurz vorher halbwach. Dann presste sie die Beine zusammen, lockte damit die lustvollen Wellen näher und ließ sich von ihnen davontragen. Mit Alfred kam sie nie zum Höhepunkt. Ein Jammer, dachte Kathryn manchmal, wie viel Energie da brachliegt. Ihre Sexualität schlummerte in ihr wie eine zusammengerollte Katze. Und Kathryn blieb nichts anderes, als sie möglichst zu ignorieren.
Ein grauer Tag begann, wieder einmal. Schon bevor Kathryn aufstand, spürte sie Kopfschmerzen und Übelkeit, fühlte sich unausgeruht, nervös, unglücklich. Entmutigt zog sie das Kissen über ihren Kopf. O Gott, nicht schon wieder! Doch das Karussell der zerstörerischen Gedanken feierte längst ein Fest: Es ist egal, wie ich es anfange und wie sehr ich mich anstrenge. Es reicht nicht, es kommt immer aufs Gleiche hinaus. Ich verliere die Menschen, die ich am meisten liebe. Ich verdiene es offenbar nicht, wirklich glücklich zu sein. Besser, ich bin gar nicht erst glücklich. Sonst passiert etwas Schlimmes. Ich sehe es ganz klar und deutlich. Es wird böse enden. Es kann nur böse enden.
Kathryn versuchte mit aller Kraft, sich gegen den unheilvollen Sog zu wehren. Es geht vorbei. Morgen, übermorgen oder spätestens überübermorgen siehst du die Welt mit anderen Augen. Du weißt es. Denk an deinen Sohn, an Carls Sohn, der Junge braucht dich. Denk an deine niedliche Annabella. Sei dankbar. Du bist bevorzugt, andere haben kein Dach über dem Kopf und müssen hungern. Nimm dich selbst nicht so wichtig. Was ist schon so wunderbar an dir? Du kannst anderen helfen. Damit gibst du deinem Leben einen Sinn. Nutze deine Privilegien dafür.
Ja, das werde ich tun, sobald die Kräfte zurückkehren, dachte Kathryn. Sie stand auf, suchte ihre Medikamente, schaffte es gerade noch ins Bad, bevor sie sich übergeben musste. Ab diesem Punkt half nichts mehr. Keine Gedanken. Die Lawine riss sie mit sich. Nur noch Übelkeit spürte sie nun und unendliche Traurigkeit.
Aashmi hörte die verräterischen Geräusche. Sie schloss kurz die Augen. Arme Lady Kathryn! Der böse Dämon quälte sie wieder. Aashmi, die immer noch schlicht geschnittene Kleider in leuchtenden Farben trug, kümmerte sich um die Kinder. Sie hatte die kleine Annabella ja schon als Amme gestillt. Aashmi und Mr Singh hatten 1931 im schottischen Gretna Green geheiratet und 1932 selbst ein Baby bekommen. Ihr Sohn Mohandas war ein Jahr älter als das Mädchen, das meist Belle genannt wurde. Mr Singh träumte davon, in Saint Helier ein Schneideratelier zu eröffnen. Darauf sparten sie beide, doch Aashmi wusste jetzt schon, dass sie sich nur schwer von Kathryn und den Kindern würde trennen können.
Sie ging nach unten, um seiner Lordschaft mitzuteilen, dass heute für ihre Ladyschaft wieder ein grauer Tag war.
Alfred nahm es zwar nicht ohne Bedauern, aber längst routiniert zur Kenntnis. Er hatte mit seinem Leibarzt über dieses Krankheitsbild gesprochen, nachdem schon diverse Koryphäen aus London seiner Frau nicht hatten helfen können. Und dieser lebenserfahrene Mediziner meinte, es sei eine Kombination aus vielem.
»Man könnte nach einem Etikett suchen: Migräne, Rheuma, Depression … Doch letztlich ist es bei Lady Kathryn wohl eine seelische Verletzung aus der Vergangenheit, die sie auf diese Weise bewältigt. Diese grauen Tage sind ihr Ventil, um Schlimmeres zu verhindern. Und nicht alles lässt sich heilen. Leider. Höchstens lindern.«
Kathryn selbst
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