Die Rose von Darjeeling - Roman
Schlangestehen verspätet. Alles war rationiert: Butter, Fleisch, Benzin, Kleidung. Man versuchte, die Situation mit Humor zu meistern. Der Obst- und Gemüsehändler hatte ein Schild ins Fenster gehängt. Yes! We have no bananas. Kathryn musste an das rauschende Fest mit Carl und Gustav im Gymkhana Club denken, als sie alle diesen Gassenhauser mitgesungen hatten. Eine Ewigkeit war das her!
Wieder einmal heulten die Alarmsirenen. Big Ben schlug zur vollen Stunde. Kathryn beeilte sich, sie musste Belle noch von einer Freundin abholen.
»Ich durfte heute beim Sport der Schiedsrichter sein«, erzählte ihre Tochter stolz. Sie war ein niedliches Mädchen mit kupferfarbenen Locken und großem Bewegungsdrang.
»Nächstes Mal darf ich wieder den Anpfiff machen, hat Miss Miller gesagt. Guck mal!« Stolz zeigte sie ihrer Mutter eine kleine silberfarbene Trillerpfeife an einem Halsband.
»Schön, Liebling. Komm, wir müssen uns beeilen.«
Kathryn sah schon die hellgelben Nasen der Messerschmitt-Jäger, das rote Blitzen des Flakfeuers. Mit Annabella an der Hand lief sie zum nächsten U-Bahn-Eingang. Mehr als hundert Menschen standen dort, bewegten sich jedoch diszipliniert hinunter und suchten sich Lagerstätten, notfalls würden sie dort übernachten. Kathryn fand nur noch Platz auf den Stufen einer Rolltreppe. Um ihre Tochter zu beruhigen, pfiff sie Yes! We have no bananas.
Die Einschläge kamen näher. Es klang, als sei da draußen ein höllisches Inferno ausgebrochen. Druckwellen überrollten sie, blockierten ihre Ohren, die Wände und die Rolltreppe vibrierten. Kinder weinten. Kathryn legte schützend den Arm um ihre Tochter.
Die Luft war hier oben nicht so stickig wie ganz unten im Tunnel, wo die Menschen dicht an dicht, zum Teil mit Wolldecken und Kissen, neben den Gleisen lagen. Doch jetzt drang der Geruch von Verbranntem ein. Angstschreie gellten. Glühende Trümmer stürzten hinunter. Kathryn riss Annabella an sich und ergriff die Flucht, sprang mit einem Satz von der Treppe. Ein stechender Schmerz schoss durch ihren Knöchel. Panik brach aus, Belle riss sich los, ätzende Dämpfe erfüllten die Luft. Kathryn hustete, sie sah nichts mehr.
»Annabella? Belle? Wo steckst du?«
Aber nun riefen und brüllten alle Menschen durcheinander, offenbar hatte es Tote und Verletzte gegeben. Es roch nach verbranntem Fleisch. Kathryn irrte durch das Gedränge, sie hatte vollkommen die Orientierung verloren.
»Belle! Belle! Mein Kind!«
Sie lief und hielt wieder inne, wandte sich um, hustete und musste gleichzeitig aufpassen, nicht niedergetrampelt zu werden. »Annabella!« Ihre Stimme überschlug sich. Wo um Himmels willen sollte sie suchen, wo konnte ihr kleines Mädchen stecken?
»Hilfe, bitte helfen Sie mir!«
Eine verletzte Frau lag am Boden und zerrte an Kathryns Mantel. Kathryn wollte es nicht bemerken. Sie musste ihre Tochter suchen. Die Luft wurde knapp. Tränen und Schmutz erschwerten zusätzlich das Sehen. Kathryns Knöchel schmerzte so sehr, dass sie kaum auftreten konnte. Nie wieder wollte sie um irgendetwas bitten, wenn sie nur Annabella heil zurückbekäme!
Sie hörte Pfiffe, kurz, rhythmisch. Es konnte das Signal eines Bobbys sein, jeder Polizist in London besaß eine Trillerpfeife und benutzte sie gern und häufig. Aus der Ferne klangen schrille, lang gezogene Töne. Kathryn lauschte angestrengt, um die Richtung besser orten zu können. Jetzt hörte sie es wieder. Kurze, rhythmische Pfiffe – das war der Anfang von Yes! We have no bananas! Das musste Belle sein.
Kathryn kämpfte sich zu ihrer Tochter durch. Sie saß zusammengekauert, vom Schreck gezeichnet, aber unverletzt, in einem engen Spalt unter der Rolltreppe. Kathryn zog sie hervor, und Annabella schlang ihre Arme um sie. Dann fuhr sie mit ihren kleinen Fingern über Kathryns Gesicht.
»Du weinst ja, Mummy.«
»Vor Glück, du kluges Kind, vor lauter Glück!«
Als sie wieder auf die Straße traten, säumten Hunderte von Bränden den Horizont. Flammen peitschten gen Himmel, einige so nah, dass Kathryn es knistern hörte. Feuerwehrleute riefen, eine Rotkreuzschwester half ihr, stützte sie und begleitete sie nach Hause.
»Wir werden es ihnen vergelten«, sagte Alfred am Abend grimmig. »Und du musst jetzt endlich mit Belle aufs Land ziehen. Ich verbiete dir, länger hierzubleiben.«
Kathryn zog eine Augenbraue hoch. Da wusste er, dass er einen Fehler gemacht hatte. Sein Schwiegervater hatte ihm einst, als er bei ihm um die Hand seiner Tochter
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