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Die Rose von Darjeeling - Roman

Die Rose von Darjeeling - Roman

Titel: Die Rose von Darjeeling - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sylvia Lott
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Brombeeren. Als er mit dem vollen Eimer aus dem Wald zurückkehrte, schossen die Aufseher. Sie konnten sich durch Erschießen einen Urlaub verdienen. Otto fiel vornüber. Die Wachen drehten ihn mit ihren Gewehrkolben um. Aus Ottos Brust sickerte rotes Blut und vermischte sich mit den blaulila Flecken der zerdrückten Brombeeren – ein Anblick, den Carl nie vergessen würde.
    Dieser Tag hatte ihn gelehrt, sich unauffällig zu verhalten. Er legte sich auch an diesem Abend schlafen wie immer.
    Als Carls Einheit sich im Januar 1945 auf der Hohen Tatra, einem Gebirgszug in den Karpaten, ergab, hatten die Männer gehofft, in US -amerikanische Gefangenschaft zu geraten. Das waren sie auch, doch dann lieferten die Amis sie den Russen aus. Und die steckten sie in Güterwaggons gen Osten.
    »Ha, ich denke, du bist ein Sonntagskind«, hatte Jupp gehöhnt.
    Dreißig Tage und Nächte verbrachten die Soldaten in den überfüllten Waggons. Sie verfolgten die Route, auf der sie gen Osten rollten – Budapest, Bukarest, Rumänien. Einige Soldaten fürchteten Sibirien mehr als den Tod und versuchten, sich umzubringen. Doch bei Rostow machte der Zug plötzlich einen scharfen Knick in Richtung Süden. Lauter Jubel toste durch die Waggons. »Wir fahren nicht nach Sibirien!« Sie blieben im bekannten Teil der Welt!
    Als Carl im Kaukasus ausstieg, schien die Sonne. Helles Licht, schöne hohe Berge, angenehmes Klima. Kaukasus, die Heimat vieler wunderbarer Blumen, auch vieler Rhododendren. Am wichtigsten aber war: Die Georgier hassten die Deutschen nicht. Sie galten als die Italiener der Sowjetunion, südländisch, lebenslustig. Im Laufe seiner Gefangenschaft verstand Carl, dass sie sich von Moskau bevormundet und gegängelt fühlten. Doch Moskau war weit. Und die Feinde der Russen nicht zu hassen war auch eine Art Protest gegen die Mächtigen im Kreml.
    Das Leben war hart, die Arbeit bitter, im Vergleich zu Sibirien jedoch eindeutig die bessere Alternative. Carl stumpfte mit der Zeit ab, sein Herz war wie von einer Gipshaut umfangen. Er machte seine Arbeit, auch im Winter barfuß, er aß, er schlief. Es kam vor, dass er sich – viele Gefangene machten das – für eine oder zwei Stunden vom Straßenbau aus der Kolonne entfernte, in Tiflis an die Haustüren klopfte und um etwas zu essen bat. Oft wurde ihm etwas gegeben. Carl schämte sich zu betteln. Aber es war immer noch besser, als zu verhungern.
    Vor dem Lager stand ein großer Baum. Manchmal kletterten Kinder hinein und sangen ihnen etwas vor. Einmal spielte ein Mädchen etwas auf der Mundharmonika. Da kamen Carl die Tränen.
    Manchmal träumte er von zu Hause. Er saß mit seinen Eltern in der Laube und spuckte Kerne von saftigen Schattenmorellen in die Büsche. Er sah eine riesige Schüssel dampfender Kartoffeln vor sich. In seinem schönsten Traum sah er die Rose von Darjeeling aufblühen und Kathryn daran schnuppern.
    Zwei Fotos waren ihm geblieben. Das von Gesine und den Kindern – er strich auf dem mehrfach gebrochenen Fotopapier, wenn er sich unbeobachtet fühlte, mit der Hornhaut seiner Fingerspitzen über die Gesichter – und das Foto von Kathryn auf der Teekiste in Darjeeling. Sie war sein Licht, sein Grund zu überleben. Ihr Wesen schien ihm näher als das von Gesine. Manchmal fühlte er, dass sie genau jetzt an ihn dachte.
    »Mensch, Carl«, sagte Jupp. »Du glühst ja.«
    Er hatte Typhus. Monatelang blieb Carl im Lagerlazarett, wo er sich auch noch mit Ruhr infizierte. Als eine doppelseitige Lungen- und Rippenfellentzündung hinzukam, überstellte man Carl ins Hauptlazarett. Dort musste er sich mit zwei anderen Kranken eine der eng nebeneinander aufgebauten Pritschen teilen. Neben der Tür stand allerdings ein Bett, in dem immer nur ein Kranker lag, derjenige, der dem Tod am nächsten war. In der ganzen Zeit, die Carl hier verbrachte, hatte noch keiner dieses Bett lebendig verlassen.
    Carl wurde gleichgültig. Er dämmerte die meiste Zeit im Fieberwahn vor sich hin. Als er einmal kurz aus seinem Delirium erwachte, erkannte er am veränderten Lichteinfall, dass jetzt er derjenige war, der in dem Einzelbett lag. Zum ersten Mal in seinem Leben spürte er keine Zuversicht mehr. Das war im Mai 1946.
    Carl träumte im Fieberwahn. Nein, diesmal war es mehr als ein Traum, denn es fühlte sich alles ganz real an. Carl spürte deutlich, wie seine Seele sich löste und erhob, sie blieb nur noch durch einen feinen silbernen Faden mit seinem siechen Körper verbunden und reiste um

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