Die Rose von Darjeeling - Roman
Pappeln am Horizont. Gustav atmete tief durch. Es gab nicht viele Regionen auf der Welt, wo sich sein Inneres dermaßen schlagartig öffnete.
Und da fiel es ihm ein: Was war mit der Queen of Darjeeling oder richtiger der Rose von Darjeeling? Das hatte er Gesine fragen wollen. Durch den Krieg und Carls Einberufung war er nicht mehr dazu gekommen, seine zwanzig reservierten Exemplare abzuholen. Viel war seitdem geschehen … Stimmte es wirklich, dass er einmal im Himalaya gewesen war? Dass er einmal eine Frau aus tiefstem Herzen geliebt hatte? Dass er einst mit ihr und seinem besten Freund magische Augenblicke hatte erleben dürfen, in denen sie sich miteinander, mit der Welt und dem Kosmos verbunden fühlten? Der Phantomschmerz in seinem Bein holte ihn in die Gegenwart zurück.
»Hü!«
In Leer belieferte Gustav seine Abnehmer, die auf dem Schwarzmarkt Handel trieben. Er selbst begab sich dort, wo regelmäßig Razzien stattfanden, nicht in Gefahr. Am späten Nachmittag spannte er das Pferd wieder vor den Wagen und fuhr zurück. Als er Westerstede erreichte, war es schon dunkel und empfindlich kalt geworden. Erst wollte er am Haupthaus klingeln, doch dann entschied er sich anders.
Gustav stapfte zu dem Platz hinter dem langen Gewächshaus, wo Carl ihnen kurz vor Kriegsbeginn seine hoffnungsvollste Rhododendronzüchtung gezeigt hatte. Links und rechts des Weges lagen diverse ausgebuddelte Ziersträucher und Rhododendronbüsche. In der dunklen Erde klafften Löcher, viel Bestand war offenbar schon abtransportiert worden. An anderen Stellen hoben sich Haufen von Pflanzen mit Wurzelballen, aufgeschichtet wie fürs Osterfeuer, gegen den diesigen Abendhimmel ab. Gustav rätselte, ob sie wohl zur Vernichtung oder für eine Umsiedlung in den Kiefernwald bestimmt waren. Endlich erreichte er die gesuchte Stelle. Auch hier häuften sich ausgegrabene Rhododendren. Gustav suchte und fand rasch die Exemplare mit den gelben Bändchen und der Aufschrift Rose von Darjeeling.
Eigentlich standen sie ihm ja sowieso zu. Und bevor sie nun zu Brennmaterial geschreddert, im Moor versenkt oder tatsächlich im Osterfeuer verbrannt wurden, war es doch besser, er nahm sie mit. Natürlich hätte er Gesine ausdrücklich um Erlaubnis bitten können. Aber sie hatte doch am Vormittag schon einen sehr überforderten Eindruck gemacht. Sie wusste auch wohl kaum, was diese Züchtung Carl wirklich bedeutete.
Und wenn Carl längst tot war?
Gustav überlegte nicht länger. Im Schutz der Dunkelheit zog er unbeobachtet zehn der immergrünen Sträucher an die Straße und hievte sie hinten auf seinen Pferdewagen. Mehr schaffte er nicht. Er beruhigte das nervös schnaubende Pferd. Müde, aber heiter wie nach einem gelungenen Streich, fuhr Gustav in die Nacht hinaus.
Georgien, Kaukasus
Frühjahr 1946 bis Frühjahr 1947
Die Baracke stank, an die harte Pritsche hatte Carl sich inzwischen gewöhnt. Er kämpfte seinen täglichen aussichtslosen Kampf gegen die Wanzen. Mit dreihundert Mann waren sie in das Lager gekommen, jetzt lebten hier noch einhundertachtzig. Der Rest war tot oder im Lazarett.
Angeekelt schob Carl seine Essensportion dem Pritschennachbarn rüber. »Du kannst meine haben, Jupp.«
Er verschmähte die kleinen Salzfische aus dem Kaspischen Meer, weil er wusste, dass er davon wieder Oedeme bekommen würde. Jupp, früher Arzt in Bochum, redete ihm jedoch zu.
»Los, iss das Zeug, Carl«, sagte er. »Das ist unsere einzige Eiweißquelle.«
Nur alle vierzehn Tage gab es die Fische. Sonst ernährten sie sich wie alle anderen deutschen Kriegsgefangenen von zwei Wassersuppen am Tag, in denen zwei Esslöffel Graupen schwammen. Wenn sie beim Steineklopfen für den Straßenbau in Tiflis die normale Arbeitsleistung erbracht hatten, erhielten sie am Abend vierhundert Gramm nasses Brot. Carl achtete wie alle darauf, dass seine Ration aufs Milligramm genau abgewogen wurde. Und obwohl es schwer im Magen lag, schlang er das Brot so schnell er konnte herunter. Wenn er mit der Arbeitskolonne rauskam, entdeckte er in den kurzen Ruhezeiten, die man ihnen gönnte, manchmal Essbares, was andere für Unkraut hielten. Vitaminreiches Grünzeug, das er mit einigen Mitgefangenen teilte.
Otto, ein anderer seiner Kameraden, hatte eines Tages gesagt: »Im Wald sind jetzt die Brombeeren reif, ich hab welche gesehen. Hab einen solchen Heißhunger drauf!«
Bei nächster Gelegenheit verschwand Otto während der Arbeit mit einem Alueimer aus der Kolonne und sammelte
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