Die Rose von Darjeeling - Roman
entflohen waren. Ihre Mutter sagte immer: »Sei froh, dass wir dich nicht schon mit vier Jahren als Sklavin verkaufen mussten.« Das ganze Dorf war damals in einem wochenlangen, entbehrungsreichen Fußmarsch durch die Berge nach Darjeeling gekommen, weil es hieß, dort würden Helfer in den neuen Teegärten gesucht und gut bezahlt.
Doch Aashmi fand ihre Arbeit furchtbar eintönig. Außerdem war vieles so ungerecht. Zum Beispiel, dass die Männer aus der Manufaktur schon drei Stunden vor den Pflückerinnen Feierabend hatten. Die junge Nepalesin liebte schöne Stoffe, sie webte gern. Sie hatte in einer Nähstube die Grundbegriffe gelernt und sich geschickt angestellt. Wenn außerhalb der Erntezeiten in Heimarbeit die Begrüßungsschals für Gäste bestickt werden mussten, fiel ihr immer etwas ein, wie man die Muster noch feiner gestalten konnte. Das wäre etwas, mit dem sie ihren Lebensunterhalt gern verdienen würde.
Pünktlich traf sie am Sammelpunkt ein und stieg mit den anderen Pflückerinnen im Gänsemarsch den Hügel hinauf. Jeder wurde eine Reihe zugewiesen. Die Teesträucher reichten ihr bis zur Hüfte. Geübt flogen ihre Finger über die Spitzen, zupften nur die alle vier bis sieben Tage nachwachsenden jungen Blätter mit der noch zusammengerollten Blüte ab, warfen sie über die Schulter in den Korb. Ach, dieser leidige Flechtkorb – wie oft hatte sie sich darüber schon geärgert! Während der Regenzeit hing er wie eine Zentnerlast an ihrem Kopf und drückte, da konnte sie ihre Stirn unter dem Gurt noch so gut abpolstern. Oft mussten sie sich in den feuchten Feldern gegen Blutegel wehren. Und jeden Abend kam sie dann durchnässt nach Hause in ihre Hütte, wo es durch alle Ritzen zog. Auf dem Boden aus festgestampfter Erde stieg trotz der abgewetzten Teppiche darüber die Kälte hoch. Die Kleidung trocknete nicht richtig, alles war klamm, selbst der Schlafplatz aus Strohsäcken.
Jetzt, in der Trockenperiode, war es auch nicht viel besser. Wenn die Sonne stach, bekam man schnell Kopfschmerzen. Außerdem wuchs der Tee nicht so üppig, und das bedeutete, dass sie viel länger pflücken musste, um auf die gleiche Menge zu kommen wie in der Regenzeit. Schließlich wurde man nach Gewicht bezahlt. Wenn Aashmi einen gemeinen Aufseher hatte, betrog der sie auch noch beim Abwiegen. Seit ein paar Wochen hatten sie einen neuen, Padma hieß er.
»Träum nicht!«, rief er ihr jetzt zu. Aber er lächelte dabei.
Auf einen Stock aufgestützt stand Padma am Anfang der Reihe im Schatten eines Niembaumes, der Schädlinge vertreiben sollte. Die anderen Mädchen und Frauen in ihrer Gruppe tuschelten, lachten, dann stimmten sie ein Lied an. Manche träumten vor sich hin. So verging die Zeit. Aashmi träumte auch – von einem anderen Leben, obwohl sie nicht viel von anderen Leben wusste. Und obwohl ihre Mutter sagte, Träume seien etwas für reiche Leute, und sie solle froh sein, dass sie nicht hungern müsse, und überhaupt sei alles Karma und vorherbestimmt.
In der Mittagspause hetzten die jungen Mütter nach Hause, um ihre Babys zu stillen. Aashmi setzte sich mit den übrigen Frauen in den Schatten. Sie aßen Reis mit etwas Gemüse und einem kleinen Stück Trockenfisch.
»Padma hat ein Auge auf dich geworfen«, sagte eine ältere Frau.
»Ach was!«, wehrte Aashmi verlegen ab.
Doch da rief er auch schon nach ihr. »Komm mal her! Ja, du da, in der roten Jacke!«
Sie eilte auf den Aufseher zu. Padma war vielleicht Anfang dreißig und kräftig. Er sah sie seltsam an.
Als sie außerhalb der Hörweite der anderen war, sagte er: »Du bist mir aufgefallen.«
Aashmi bekam einen Schreck. Er stammte in zweiter oder dritter Generation aus Nepal, wie die meisten Arbeiter in Darjeeling, das hatte ihr eine der anderen Pflückerinnen erzählt. Aber von einem anderen Stamm als ihre Leute, sie war eine Gurung. Überhaupt fand sie ihn unsympathisch. Aus seinem Mund roch es abscheulich, und wenn er lächelte, blieben seine Augen unbeteiligt. Jetzt sah er sie lüstern an.
»Ich kann dir noch was beibringen. Komm doch heute Abend nach Einbruch der Dunkelheit mal in meine Hütte.«
Aashmis Gesicht schien vor Zorn fast so bleich zu werden wie die Silberperle, die sie als Nasenschmuck trug. Mühsam unterdrückte sie ihre wahren Gefühle.
»Ich muss meinen kranken Bruder pflegen.«
»Dann treffen wir uns am Sonntag.«
»Dann muss ich die Wäsche für die Familie waschen und im Dschungel Holz sammeln.«
»Aber doch nicht den ganzen
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