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Die Rose von Darjeeling - Roman

Die Rose von Darjeeling - Roman

Titel: Die Rose von Darjeeling - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sylvia Lott
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dass im Dorf mittlerweile recht ausgefallene Variationen von »Hans und die Bohnenranke«, »Drei kleine Schweinchen«, »Schneewittchen« oder »Hänsel und Gretel« kursierten.
    Die Kinder konnten weder lesen noch schreiben, was sich nach Kathryns Plänen jedoch bald ändern sollte. Sie wollte einen Grundschullehrer einstellen, ihr Vater hatte allerdings bislang seine Zustimmung verweigert. »Dann kommt Indiens Unabhängigkeit noch früher. Willst du das?«, hatte er ihr stattdessen zu bedenken gegeben. Kathryn wusste aber aus Gesprächen unter den Pflanzern, dass es in einigen Teegärten bereits Schulunterricht für die Kinder der Arbeiter und Pflückerinnen gab. Es würde bald zum guten Ton gehören, dass man mehr für die Bildung seiner Leute tat.
    Kathryn fühlte sich an diesem Nachmittag etwas aufgeregt, weil sie zwei erwachsene Zuhörer hatte. Doch nach den ersten Tönen vergaß sie, dass Gustav und Carl da waren. Sie ließ sich davontragen von den Klängen ihres Instruments, die wie ein sanfter Regen durch das Glashaus zu perlen schienen. Ihr Gesicht spiegelte jede Gefühlsregung. Sie schloss die Augen, fühlte mit den Fingerspitzen die Vibrationen der Saiten. Vor ihrem geistigen Auge sah sie, wie Carl mit freiem Oberkörper auf seinem Oldenburger Hengst ritt, sie sah seine Muskeln spielen, sah seine schmalen Lenden, mit denen er den sich aufbäumenden Hengst beherrschte … Rasch öffnete sie die Augen wieder und brachte sich in die Realität zurück.
    Gustav ertappte sich bei der Vorstellung, weibliche Hände würden so zartfühlend, doch keineswegs zaghaft über seinen Körper gleiten. Sofort verbot er sich weitere Fantasien. Er lenkte sich damit ab, dass er die Kinder beobachtete, die völlig verzaubert wirkten.
    Auch Carl gab sich seinen Gedanken hin. Er entwickelte passend zur Musik Visionen von Lichtungen im sikkimesischen Urwald, auf denen wunderbare Rhododendren blühten.
    Nach einer Schlusskaskade, die einem tosenden Wasserfall glich, erzählte Kathryn das Märchen von Dornröschen. Manche Passagen übersetzte sie lautmalerisch mit der Harfe. Sie ließ die Dornen pieksen, die Verliebten melodiös schwelgen, die Ohrfeige des Kochs ordentlich knallen – die Kinder hörten und sahen ihr gebannt zu und schienen doch zumindest gefühlsmäßig vieles zu verstehen.
    Es gab auch eine wehmütige Passage, die Carl aufhorchen ließ. Er betrachtete Kathryn mit halb geschlossenen Augen, und eine Ahnung beschlich ihn, eine Ahnung davon, dass tief in ihr eine melancholische Geschichte schlummerte, die hervorgezerrt und erlöst werden wollte.
    Nach dem Konzert ging Kathryn mit den Gästen noch ein wenig spazieren. Nebel stieg auf, und die frühe Abendstunde zeigte den Teegarten in einem anderen, milden Licht. Die hintere Seite des Glaspavillons hatte sich eine Glyzinie mit ihren lilablauen Blütentrauben erobert, eine kleine Rasenfläche schloss sich an, um die herum mehrere hohe Rhododendronbüsche standen. Carl erkannte gleich die Sorte, eine nicht besonders spektakuläre Züchtung aus Bagshot bei London. Er musste schmunzeln. Es war schon speziell, dass sich ein Pflanzer in der Heimat der Rhododendren eine Spezialzüchtung um die halbe Welt liefern ließ. Ausgerechnet in den Himalaya, wo die meisten Rhododendronarten ihren Ursprung hatten. Aber es gehörte in den Kolonien eben zum guten Ton, einen typisch englischen Garten vorweisen zu können. Die Knospen versprachen ein zartes Rosa, doch einige wenige schon geöffnete Blüten strahlten reinweiß. Carl ging näher heran und schnupperte. Er schloss genießerisch die Augen.
    »Erstaunlich«, sagte er, »die wenigsten Rhodos duften. Jedenfalls, wenn sie Frost vertragen. Und das muss diese Sorte ja wohl in dieser Höhe.« Er atmete noch einmal den zarten, leichten Duft ein. »Muss sich um eine besondere Selektion der Waterer-Hybride handeln.«
    »Die waren immer schon da«, sagte Kathryn, »solange ich denken kann.« Sie setzte sich auf eine alte Schaukel. »Hier war früher unser grünes Kinderzimmer, ein von hohem Gebüsch umwachsener Spielplatz. Ist ziemlich verwildert inzwischen.«
    Gustav und Carl machten es sich auf einer verschnörkelten Eisenbank, die von einem der Büsche überdacht wurde, bequem und scheuchten dabei einen Schwarm grün gefiederter Rosenkopfsittiche auf, die sich schon zur Nachtruhe niedergelassen hatten. Durch die Eisenranken wanden sich herzförmige Mondwindenblätter mit noch geschlossenen Knospen. Carl passte auf, dass er sie nicht

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