Die Rose von Darjeeling - Roman
hätten sie sich verirrt.
Etwas unmutig verzog Kathryn nun den Mund, denn innerhalb kürzester Zeit hatten sich noch mehr Wolken vor die Gipfel geschoben, und der Morgennebel verschleierte zunehmend die Aussicht.
»Wie schade!«, rief sie.
»Nein, es ist großartig!«, widersprach Carl.
»Einmalig!«, fand auch Gustav.
Mit jedem Atemzug veränderte sich das Licht. Carl und Gustav versuchten, die fernen Bergzüge von Nepal über Sikkim bis Bhutan zuzuordnen. Diese unendliche Weite! Carl machte seine Schwarz-Weiß-Fotos, doch er bezweifelte, dass sie der Schönheit des Augenblicks gerecht werden konnten. Wolken und Berge, wenige Augenblicke zuvor noch von Fliederfarben zu Rosa changierend, erglühten in Orangerot, schienen zu brennen wie eine Wunde. Dann wandelte sich die Farbe in ein leuchtendes Gelb und ging nun allmählich in strahlendes Weiß über.
Kathryn hatte den Sonnenaufgang am Tiger Hill einmal als Kind mit ihren Eltern in überwältigender Klarheit und Schönheit gesehen. Wie glücklich waren sie damals gewesen! Wie schwer musste es ihrem Vater fallen, ohne seine geliebte Frau zu leben. Es konnte außerhalb der Erntezeiten recht einsam sein in Geestra Valley. Soziale Kontakte zu ihresgleichen gab es nur am Wochenende im Planters’ Club in Darjeeling, wo sich die Besitzer der Teegärten trafen und austauschten. Aber selbst dort fand Kathryn es oft eintönig, weil immer die gleichen Leute kamen. Plötzlich empfand sie Mitleid mit ihrem Vater, und es überwog erstmals ihren Groll darüber, dass er sie ins Internat geschickt hatte.
»Schade, jetzt ist alles weiß. Das ist nichts …«
Kathryn wollte sagen … nichts im Vergleich zu dem, wie es sein könnte, doch Gustav schnitt ihr das Wort ab. »Es war fabelhaft«, beteuerte er, »glaub mir.«.
Carl besann sich auf eine ebenso naturwissenschaftliche wie philosophische Erkenntnis. »In Weiß stecken alle Farben des Prismas, so wie im Nichts alle Möglichkeiten stecken.«
Bewundernd sah Kathryn ihn an. »Das gefällt mir!«, sagte sie. »Das klingt wunderschön!«
Der Polizeipräsident sei nicht zu sprechen. Das teilte ihnen an der Pforte des Hauses sehr von oben herab einer seiner Schreiber mit – ein Tibeter in dunkelblauer Tschuba, dem traditionellen Obergewand aus Wolle mit weiten Ärmeln und Gürtel.
Kathryn lüpfte eine Augenbraue. »Das wollen wir doch mal sehen!«
Sie machte kehrt und stapfte ihren deutschen Gästen voran durch ein für Fremde schier unüberschaubares Gewirr von Gassen. Das Gewusel und die Menschen interessierten sie nicht, weder die Mönche mit ihren kahl geschorenen Köpfen in den orangeroten Kutten, noch die Bazare der mongolischen und bengalischen Händler. Im asiatischen Teil der Stadt Darjeeling sah man kaum Europäer. Lautes Lärmen, Lachen und Feilschen mischte sich mit dem Knattern von Handkarren und Hupen. In kleinen Holzbuden kauften die Frauen der Bergvölker ein. Sie trugen gewickelte Röcke aus bunt gewebten Stoffen, dazu Gürtel, mächtige Amulette und Ohrringe aus gehämmertem Silber, verziert mit Türkisen, Granat, Amethyst oder Rauchquarz. Ein Gewürzhändler hielt jedem Passanten, ob Lepcha, Bhotia, Gurung oder Sherpa, seine Currymischungen unter die Nase. Ein anderer pries sein frisch geschlachtetes Geflügel, der Nächste seine Früchte. Inzwischen schien die Sonne warm, Kathryn zog ihre Strickjacke aus, rollte die wollenen Kniestrümpfe herunter und drängte weiter voran.
Carl und Gustav folgten der jungen Frau fasziniert. Mal duftete es nach Ingwer, Zimt und Kardamom, mal nach Räucherstäbchen und würzigen Bergkräutern. Und dann lockten frisch ausgebackene süße Krapfen zum Naschen. Eine Chinesin, die mit einer dampfenden Reisschale auf ihrer Veranda Platz genommen hatte, lächelte den blonden Gustav bewundernd an, was er mit einem vergnügten Zwinkern quittierte.
Zehn Minuten später befanden sie sich in einer völlig anderen Welt. Kathryn hielt vor einem zauberhaften Tudor Cottage, einem Fachwerkhaus, das von Rosensträuchern und Clematis umrankt war, behängt mit Körben voller Fuchsien und Geranien. In der Nachbarschaft standen hinter ordentlich gestutzten Hecken im viktorianischen Stil erbaute Häuser mit Holzschnitzereien an den Giebeln.
»Sam? Bist du da?«, rief Kathryn.
Um die Hausecke bog eine attraktive junge Frau mit Strohhut und Gärtnerschütze, die wohl im Hintergarten gewerkelt hatte. Samantha Cox war seit Kindertagen Kathryns beste Freundin. Sam wohnte hier mit ihrer
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