Die Rose von Darjeeling - Roman
Ärger machen, damit ihr Vater sie zurückholte, aber er dachte nicht daran. Erst in ihrer Zeit bei den Freunden ihrer Familie in Berlin hatte sie Europa zu schätzen gelernt. Heute verstand sie ihren Vater besser. Sie war erwachsen und konnte nachvollziehen, dass er nach dem Tod seiner Frau und seines einzigen Sohnes nicht die Kraft gehabt hatte, sich um die Tochter zu kümmern. Kathryn hätte ihm gern gesagt, dass sie ihm nicht mehr grollte. Und dass sie ihn liebte. Aber so etwas sagte man nicht, nicht in dieser Familie und nicht im British Empire. Zurückhaltung, Disziplin, Pflichterfüllung – das wurde erwartet. Zwischen ihr und ihrem Vater stand eine gläserne Mauer.
Kathryn seufzte und verließ die Küche. Im Treppenaufgang blieb sie vor dem Foto ihrer Mutter stehen. Es zeigte sie mit einem großen Fuchskragen und einer eng anliegenden Kappe vor einem offenen Automobil. Eine schöne Frau war sie gewesen. Mit dunklen Augen und Haaren – das Vermächnis einer italienischen Linie in der Familie. Kathryn zeichnete sanft mit den Fingerspitzen die Gesichtskonturen ihrer Mutter nach. Annabella Whitewater … Manchmal hörte Kathryn ihre liebevolle feste Stimme, wie sie »Schlaf schön, Katie« sagte in ihrer typischen Wortmelodie. Seit sie erwachsen war, ertappte Kathryn sich ab und zu, wenn sie einen kurzen Gruß aussprach, dabei, dass er klang wie von ihrer Mutter, ein kleines Liedchen, freundlich, verbindlich, offen.
Schlaf schön, Mama…
Wie gern würde sie mit ihr sprechen, sie streicheln, von ihr in den Arm genommen werden. Kathryn vermisste sie so schrecklich! Manchmal überkam es sie wie eine Woge, dann konnte sie kaum atmen vor Sehnsucht. Sie dachte an ihren kleinen Bruder Aldous, Aldou genannt. Er wäre inzwischen zwölf Jahre alt … Kathryn wischte sich die Tränen aus den Augen und drehte sich entschieden um. Ihre Zehen stießen gegen die kalten Messingstangen, die den roten Teppichläufer auf der Treppe festhielten. Einen Moment blieb sie noch stehen, dann gab sie sich einen Ruck und ging nach oben.
Mitten in der Nacht wachte Aashmi vom Stöhnen ihres kleinen Bruders auf. Baburam, alle nannten ihn Babu, hatte immer noch Fieber. Aashmi stand auf und machte ihm kalte Umschläge für Stirn und Waden, so wie Miss Whitewater es ihr gezeigt und wie sie es in der Nacht zuvor auch schon gemacht hatte, dann legte sie sich wieder hin und schlief weiter.
Als Aashmi früh am Morgen erneut erwachte, hatte ihre Mutter schon frisches Wasser von der Wasserstelle herangeschleppt und war dabei, das Frühstück zuzubereiten. Ihr Bruder schlief. Sie legte ihre Hand auf seine Stirn, das Fieber schien weder gestiegen noch gesunken zu sein.
Wie immer erledigte sie ihre Morgentoilette im Dunkeln, aß dann mit ihren Eltern und den beiden kleinen Schwestern Roti, gebackene Mehlfladen mit scharfer Soße. Dazu tranken sie ungesüßten Tee.
»Ich bleibe heute zu Hause und kümmere mich um Babu«, sagte die Mutter. »Ich will ihm Kräuteraufgüsse machen. Geh du allein, sei fleißig, vielleicht kannst du ein bisschen mehr herausholen, wenn ich schon ausfalle.«
»Soll ich zu Miss Whitewater gehen?«, fragte Aashmi. Die Wichtigkeit, die sie durch die Aufmerksamkeit der Pflanzertochter erfahren hatte, machte sie stolz. Die Kräuteraufgüsse ihrer Mutter nach uralter Tradition mochten ja gut sein, aber die Medizin der Weißen wirkte oft besser. Und sie glaubte auch nicht, was die Alten behaupteten, dass nämlich alle Weißen Dämonen seien. »Sie hat doch gesagt, ich kann jederzeit zu ihr kommen.«
Ihre Mutter winkte ab. »Lass uns noch etwas abwarten.«
Sie fürchtete sich. Vielleicht mussten sie das Dorf verlassen. Die junge Memsahib machte zwar einen freundlichen Eindruck, aber man sollte die Weißen nicht reizen. Ihre Lebenserfahrung sagte ihr, dass man sich am besten unauffällig hielt. Sie würde den Hüttenaltar heute besonders schön schmücken, ihrem Hauptgott Speisen darbringen, ihn mit Räucherwerk erfreuen und um Hilfe bitten.
Aashmi widersprach nicht. Sie machte sich auf zur Arbeit, um sieben Uhr musste sie dort sein. Es war bitterkalt, fröstelnd zog sie die dicke rote Strickjacke enger um ihren Leib.
Die samtblaue Morgenstimmung über den Teehügeln stimmte sie froh, doch sie wollte nicht ihr ganzes Leben als Pflückerin verbringen. Ihre Mutter war achtunddreißig Jahre alt und sah aus wie sechzig. Sicher, dieses Leben war besser als die bittere Armut, der ihre Vorfahren siebzig Jahre zuvor aus Nepal
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