Die Rose von Darjeeling - Roman
der Welt an Genussmitteln.
Aldous Whitewater winkte ihnen jovial zu.
»Guten Morgen!«, rief Kathryn ihnen fröhlich auf Deutsch entgegen. »Ich wollte nur rasch nach dem Rechten sehen. Wir können gleich los. Tinley holt schon den Wagen.«
Der Teepflanzer erzählte ihnen, dass sie die Feuchtigkeit und Wärme überprüft hätten, die nötig waren, um beste Bedingungen für die Fermentation der aufgebrochenen Teeblätter zu schaffen. Bei diesem Arbeitsgang verlor der Tee die Hälfte seiner Gerbstoffe. Die gerollten Blätter färbten sich von Grün in Rotbraun, und das betörende Aroma konnte sich entfalten. Kathryn sammelte Erfahrungen mit ihrem Vater als Lehrmeister. Dies waren die einzigen Stunden, in denen sich Tochter und Vater nahekamen.
Manchmal erinnerte die Stimmung am frühen Morgen Kathryn an die unbeschwerte Zeit, als ihre Mutter und ihr Bruder noch lebten. Damals hatte ihr Vater ihr so viel beigebracht, auch, mit Schusswaffen umzugehen. Der Dschungel ringsum ist gefährlich, du musst dich wehren können, hatte er gesagt und war sichtlich stolz gewesen, dass sie schon mit zwölf Jahren besser schießen konnte als mancher Erwachsene. Trotz ihrer mädchenhaften Konstitution hatte sie sich durch den heftigen Rückstoß des Gewehrs nicht vom Üben abhalten lassen. Du bist zwar klein, aber zäh!, hatte ihr Vater sie gelobt.
Am Duft erkannte Aldous Whitewater, wann der Prozess der Fermentation abgebrochen werden musste. Dafür kamen die Teeblätter dann für zwanzig oder dreißig Minuten in einen Raum mit trockener, heißer Luft.
»Die Zeit ist unterschiedlich lang«, erklärte Aldous Whitewater. »Schließlich fällt ja auch nicht jede Pflückung gleich aus. Aber je ruhiger man an die Ernte herangeht, desto lieblicher kann der Tee werden.« Er spottete über übereifrige Pflanzer, die schon Anfang März mit den Pflückungen begannen. »Diese Partien schmecken meistens grasgrün und gallig. Wenn man die Blätter einige Tage länger reifen lässt, sind sie weniger bitter.«
»Manche Käufer scheinen den Unterschied aber überhaupt nicht zu merken!«, meinte Gustav.
Kathryn gab ihm Recht. »So viel First-Flush-Darjeeling-Tee, wie in der Welt angeboten wird, gibt’s überhaupt nicht!«
Gustav rümpfte die Nase. »Wenn die Leute nur aufs Etikett schauen und nicht auf die Qualität, haben sie’s eben nicht besser verdient.«
Tinley fuhr jetzt die Limousine vor, einen alten Austin Heavy. Kathryn nahm vorn neben dem Chauffeur Platz, die beiden Deutschen hinten. Es roch nach altem Leder und warmem Motorenöl.
»Habt Ihr Wollmützen dabei?« Kathryn drehte sich um. »Es ist verdammt kalt so früh da oben, Tiger Hill liegt fast tausend Meter höher als Geestra Valley.«
Die Männer trugen Anoraks mit Kapuzen, die sich wenig später auf der höchsten Erhebung des Bezirks Darjeeling bewährten. Sie waren nicht die Einzigen, die hier den Sonnenaufgang erleben wollten, das sahen sie schon, als sie ausstiegen, um das letzte Stück zu Fuß zu gehen. Ein eng umschlungenes Paar flüsterte sich auf Englisch Koseworte zu, vereinzelt standen Kurgäste aus Darjeeling am Aussichtspunkt, nur notdürftig geschützt vor dem eisigen Wind, der ihnen um die Ohren pfiff. Ein Inder verbrannte wohlriechende Kräuter zu Ehren der Götter. Für ihn lebte auf dem Kangchendzönga sein wichtigster Gott, für ihn war der Berg nicht nur beeindruckend, weil er der drittgrößte der Welt war, sondern der Sitz des Weltenschöpfers Shiva. Endlich ergoss sich das Morgenlicht zartrosa über die höchsten Spitzen des Massivs. Rasch breitete es sich aus.
»Ist das nicht unglaublich schön?«, rief Kathryn begeistert. »Bei klarem Wetter erkennt man von hier aus vier Achttausender auf einen Streich!«
Mit geröteten Wangen zeigte sie auf den Mount Everest und den Kangchendzönga, wobei Letzterer, an der Grenze zwischen Sikkim und Nepal gelegen, aus ihrer Perspektive entschieden den stärkeren Eindruck machte. Zwischen beiden Giganten erstreckten sich schneebedeckte Gebirgszüge. Zwar präsentierten die Gipfel sich an diesem Morgen wolkenverhangen, trotzdem wussten Carl und Gustav, dass ihnen diese Bilder unvergessen bleiben würden. Vor ihnen, auf einer breiten Bergkuppe gut zehn Kilometer entfernt, lag die Stadt Darjeeling. Die schmalen, mehrstöckigen Häuser sahen wie Schachteln aus, die übereinandergestellt worden waren. Hohe Laubbäume reckten ihre schmalen Kronen in den Himmel. Durch die noch dunklen Täler schwebten Wolkenfetzen, als
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