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Die Rose von Ernstthal. Erzgebirgische Dorfgeschichten

Die Rose von Ernstthal. Erzgebirgische Dorfgeschichten

Titel: Die Rose von Ernstthal. Erzgebirgische Dorfgeschichten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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antwortete sie zaghaft.
    »Wen stellt das scizzirte Portrait vor, welches droben unter dem Spiegel hängt?«
    »Meinen Vater.«
    »Es ist wohl nicht gestattet, etwas Näheres über ihn zu wissen?«
    »Wir wissen selbst seit langer Zeit nichts mehr von ihm. Er hieß Emil Wallner, war in Leipzig Student der Medicin und ging vor achtzehn Jahren mit einem Engländer nach Wien, von wo aus er zum letzten Male geschrieben hat. Das ist das Eine, und nun das Andere. Mama hat von einem Herrn von Bredenow, den man hier unter der Bezeichnung des ›Blauweißen‹ kennt, die Anfertigung feiner Wäsche in Auftrag bekommen, und dieser Herr kommt nun fast täglich, um zu sehen, wie weit die Arbeit vorgeschritten ist. Seine Gegenwart ist uns außerordentlich unwillkommen«, fiel das Mädchen mit dem feinen Instinkte ein, den wir so oft und gern beim andern Geschlechte beobachten. »Mutter hat den Auftrag nur angenommen, weil es jetzt an Beschäftigung mangelt und sie nicht wissen konnte, daß derselbe den Vorwand zu wiederholten Besuchen bilden werde.«
    »Ich danke.«
    Er stand auf und ergriff ihre beiden Hände.
    »Zürnt mir Auguste wegen meiner Zudringlichkeit?«
    »Nein.«
    »Gewiß und wahrhaftig nicht?«
    »Gewiß und wahrhaftig nicht!«
    »Gute Nacht, meine liebe Auguste!«
    »Gute Nacht.«
    Sie fühlte seine Lippen auf ihrer Hand und vernahm dann seinen sich entfernenden Schritt. Ihr Herz klopfte stürmisch und ungeahnte Empfindungen durchwogten ihr Inneres. Einen Fremden, ja wohl jeden Fremden hätte sie mit diesen Fragen zurückgewiesen, zu diesem Manne aber fühlte sie sich mit offenem, unwiderstehlichem Vertrauen hingerissen, und es war ihr, als könne er durch seine Fragen den Brunnen ihrer Seele bis auf den Grund ausschöpfen. So eindringlich wie bei den Worten »gewiß und wahrhaftig nicht?« und so tief und innig wie bei dem Abschiedsgruße »gute Nacht, meine liebe Auguste!« hatte ihr noch keine Stimme geklungen, und in seiner Art und Weise, in der dritten Person mit ihr zu sprechen, hatte etwas ihr so Wohlthuendes, für sie Rücksichtsvolles gelegen. Er war es gewesen, der sie aus der Umarmung des verhaßten Junkers gerettet hatte, das war ihr aus den Reden des Letzteren klar geworden, und noch dachte sie mit Angst und Entsetzen jenes Augenblickes, wo er vor ihrem Fenster mit dem wüthenden Pferde gerungen hatte. Dieser Mann konnte unmöglich so sein, wie ihn der Meister bezeichnet hatte, und wenn sie auch nicht den Scharfblick psychologischer Reife und Erfahrung besaß, so konnte sie doch auch nicht der überzeugenden Sprache ihres Gefühles widerstehen.
    Noch lange saß sie sinnend auf ihrem Platze und hielt mit der andern Hand wie schützend die Stelle umschlossen, auf welcher sein Mund geruht hatte. Da erhob sie sich und streifte einen Gegenstand, welcher neben ihr lag. Sie nahm ihn auf; es war der gesuchte Strauß. Hatte er schon vorhin hier gelegen und war nur von ihr unbemerkt geblieben oder war er erst später hergelegt worden? Sie wußte es nicht, aber als sie sich zur Ruhe gelegt, konnte sie den Schlaf nicht finden, und noch als er ihr endlich die Augen schloß, klangen ihr die Worte, wie sie solche bisher nur aus dem Munde der Mutter gehört hatte und die sie um Alles in der Welt nicht ungeschehen gewünscht hätte, noch immer in’s Ohr: »Gute Nacht, meine liebe Auguste!«
4.
Der Kampf
    Der Herbst war in’s Land gekommen und hatte Feld und Flur in jene wehmüthigen Farben gekleidet, welche uns verkünden, daß die schaffende Natur zur Rüste gehe und die Zeit des Blumenduftes und Vogelsanges sich zum Abschied neige. In diesen Tagen zittern die Saiten des Menschenherzens in einer Stimmung, welche uns so gern zum Nachdenken und zur Einkehr in unser Inneres führt, und deshalb ist der Herbst ebenso die Zeit der Ernte für die Früchte, welche uns im Busen reiften, wie er die Garben sammelt, welche die Sichel des Schnitters von der Erde löste. Und ruht irgend ein Weh in unserer Brust begraben, so steht es zur Zeit des Blätterfalles auf von den Todten und richtet unser Sinnen niederwärts zur Scholle, aus welcher wir emporstiegen, um durch die Mühe und Arbeit des Erdenlebens den Geist für eine höhere Welt zu zeitigen und dann wieder in den Staub zurückzusinken.
    Solche Gedanken waren es, welche heut schon beim Morgengrauen die Mutter begrüßt und in den Garten begleitet hatten. Es war ihr Geburtstag und zugleich der Tag, an welchem sie vor nun zwanzig Jahren den Geliebten zum ersten Male gesehen

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