Die Rose von Ernstthal. Erzgebirgische Dorfgeschichten
Als er die Niedermühle erreichte, umging er dieselbe und war bemüht, mit Auge und Ohr die Finsterniß und nächtliche Stille zu durchforschen. Als er an der einen Giebelseite des Wohngebäudes gegenüber anlangte, glaubte er, in der Höhe ein Geräusch zu vernehmen. Vorsichtig schlich er bis an die Mauer heran und blickte an derselben hinauf. Im Dachstocke klirrte ein Fenster leise, und ein langer, strickähnlicher Gegenstand wurde emporgezogen.
»Was war das? Es ist Jemand an dem Seil hinauf geklettert! Ist’s der Vater gewesen? Soll ich den Müller wecken, oder soll ich warten, bis der, welcher es gewesen ist, wieder herunter kommt, und ihn dann wegfangen?«
Er war noch nicht mit sich im Reinen, als er schleichende Schritte vernahm, die sich ihm näherten. Es war der Müller. Ferdinand wußte das nicht, hielt sich verborgen, bis er vorüber war, und folgte ihm dann geräuschlos nach, um zu sehen, wen er vor sich habe und was der Mann im Schilde führe.
Dieser umsuchte erst das Wohnhaus und dann auch die Nebengebäude. Bei der etwas abgelegenen Schneidemühle angekommen, blieb er stehen und horchte; es war, als sei ein durch die Entfernung gedämpfter Schrei erklungen, dem nach einigen Secunden ein harter Fall folgte. So eilig, als es die Vorsicht gestattete, huschte er zurück und an Ferdinand, welcher erst jetzt den mit einer Büchse bewaffneten Horn erkannte, vorbei. Den jungen Mann ergriff eine schlimme Ahnung. Kaum war der Niedermüller an der einen Seite des Hauses verschwunden, so stürzte er nach der anderen. An der Stelle, wo er vorhin empor geblickt hatte, sprang ein Mann von der Erde auf und floh davon; ein anderer lag am Boden und gab kein Lebenszeichen von sich. Ferdinand bückte sich nieder und erkannte ihn. Es war sein Vater. Der Niedermüller konnte jeden Augenblick hier sein; er durfte ihn nicht finden. Der vor Schreck zitternde Sohn hob den Leblosen auf und suchte mit ihm den Weg nach der Obermühle zu gewinnen.
Als er so weit fortgekommen war, daß er es wagen konnte, einen Halt zu machen, legte er seine Last auf die Erde. Ein leises Stöhnen und Röcheln war die Folge der dabei verursachten Schmerzen.
»Vater,« fragte er mit angstvollem Herzen, »lebst Du noch? Hörst Du mich?«
Er bekam jetzt und auf alle seine ferneren Bemühungen keine andere Antwort, als dasselbe Röcheln und Stöhnen. Er nahm ihn wieder auf die Arme und trug ihn, selbst halb bewußtlos, der Gichtmühle zu.
Dort angelangt, fand er die Thür verschlossen. Auch wenn der schwerhörige Hans zu wecken gewesen wäre, er durfte nichts von dem Geschehenen erfahren. Ferdinand entledigte sich deshalb seiner Bürde und stieg den Damm hinan, um durch den verborgenen Eingang in das Haus zu gelangen und dann zu öffnen. Er war nur wenige Schritte noch von demselben entfernt, als eine Gestalt aus der Erde emportauchte und nach dem Deckel griff, um ihn auf den Einstieg zu legen. Sofort hatte er sie ergriffen.
»Halt, Mann! Wer bist Du?«
»Wer – wer – wer ich bin?« stotterte der Erschrockene. »Wer – wer – wer bist denn Du?«
»Ich bin der Müllerssohn hier aus dem Haus und will wissen, was Du hier zu schaffen hast!«
»Der Müllerssohn? Der Ferdinand?« klang es mit etwas beruhigter Stimme. »Ja wirklich, Du bist’s! Ich hab’ geglaubt, Du bist gar nicht daheim.«
»Und daher hast Du gemeint, Du darfst jetzt ebenso in das Loch steigen, wie vorher, als der Vater unten war! Sag’ gleich, Lebrecht, was hast Du d’rin gethan?«
»Was ich gethan hab’, willst Du wissen? Deinen Vater, den ›Geldmarder‹, hab’ ich ausgezahlt. Geh’ nur zur Niedermühl’, da liegt er todt unter meinem Fenster! Er hat mir meinen Lohn verweigert und mich gar noch auf den Kopf geschlagen. Aber der ist dick und hart und verträgt schon einen Puff. Als der alte Heimtücker aus dem Fenster war, hab’ ich ihn ergriffen und von der Leiter gestürzt. Dann bin ich ihm nachgestiegen, hab’ ihm das Herausgeld abgenommen, und nachher – nachher habe ich mir auch noch das geholt, was da unten im Tischkasten war. Verwundre Dich nur, immer verwundre Dich! Vor Dir brauch’ ich mich nicht zu fürchten, denn wenn Du mir ‘was thust, so erfährt das ganze Dorf, wer der ›Marder‹ gewesen ist!«
Er machte sich mit einer raschen Bewegung von den Händen Ferdinand’s los und eilte den Weg zurück, den er gekommen war. Es kam ihm Alles darauf an, daß seine Abwesenheit nicht bemerkt wurde; deshalb strengte er seinen verwachsenen Körper zum
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