Die Rosen von Montevideo
Jedes Geräusch, und war es noch so leise, klang in ihren Ohren wie ein Donnerknall. Das Pochen ihres Herzens, der eigene Atem … es war so laut … würde sie gewiss verraten …
Nach einigen Schritten drehte sie sich um – nach wie vor schliefen alle. Sie ging wieder ein Stückchen, keiner erwachte.
Langsam entspannte sie sich ein wenig, zumal in der Ferne das Pferd zu sehen war. Doch als sich die Bäume lichteten, wuchs eine andere Furcht. Sie würde bald mit Jorge ganz allein sein, wäre ihm hilflos ausgeliefert …
Den anderen Männern musste sie zugutehalten, dass keiner je versucht hatte, sich an ihr zu vergreifen. Vielleicht hatte Pablo ein entsprechendes Verbot ausgesprochen, ohne dass sie es mitbekommen hatte – in jedem Fall hatte sie sich von Valentín trotz allem sicher und beschützt gefühlt.
Jorge dagegen durchschaute sie ganz und gar nicht …
Erneut riskierte sie einen Blick zurück, sah aber nichts als Bäume. Selten hatte sie sich so von aller Welt verlassen gefühlt.
»Beeil dich!«
Schweren Herzens folgte sie ihm. Kleine Äste verfingen sich in ihrem Haar, Blätter schlugen ihr ins Gesicht, dann hatten sie den Wald verlassen. Nur noch wenige Schritte bis zum Pferd … Wenn sie erst einmal eine Weile geritten waren, würde das Gefühl, dass sie geradewegs ins Verderben lief, schwinden, dann würde sie Hoffnung fassen, sich auf die Rückkehr in ihr altes Leben freuen.
Jorge stieß einen leisen Pfiff aus, woraufhin das Pferd auf sie zutrabte. Ehe es sie erreichte, er nach dem Zügel greifen und ihr hinaufhelfen konnte, zerrissen Schüsse die Stille.
Im ersten Augenblick war Valeria überzeugt, dass die anderen erwacht waren und auf sie schossen. Sie duckte sich, als eine Kugel haarscharf an ihrem Kopf vorbeipfiff. Doch als weitere Schüsse ertönten, erkannte sie, dass sie nicht vom Wald kamen, sondern von der freien Steppenlandschaft vor ihnen. Sie blinzelte, um im fahlen Mondlicht etwas zu erkennen.
»Verflucht!«, brüllte Jorge neben ihr, riss sie zu Boden und drückte ihr Gesicht so fest auf den Boden, dass sie Erde schluckte.
Doch sie hatte genug gesehen. Dort vorne waren Pferde … berittene Pferde … Männer saßen darauf … in Uniform … uruguayische Soldaten. Und sie waren nicht allein unterwegs, eine Frau war bei ihnen … Claire.
Grundgütiger! Ihre Cousine war gekommen, sie zu retten!
Heiße Tränen strömten aus ihren Augen. Wie schon so oft würde Claire sie aus dem Schlamassel befreien, auf sie konnte sie sich immer verlassen.
Sie riss sich von Jorge los, sprang auf und rannte auf die Soldaten zu. Nach wenigen Schritten hatte er sie eingeholt und stieß sie abermals zu Boden.
»Willst du sterben, Mädchen?«, brüllte er.
Da erst erkannte sie, dass die Soldaten weiterhin auf Jorge und sie zielten. Wie auch nicht – trug sie doch mittlerweile Hosen. Die Soldaten glaubten wohl, zwei Männer vor sich zu haben, die es auszuschalten galt, ehe sie den Rest von Pablos Gruppe überwältigten.
Valeria versuchte, ihnen etwas zuzurufen, doch ihre Stimme ging im Kugelhagel unter, und bevor sie die Hände heben konnte, um zu zeigen, dass sie keine Waffe besaß, zerrte Jorge sie zurück in den Schatten eines Baumes.
»Verflucht!«, knurrte er. Hinter seiner Stirn arbeitete es – offenbar überlegte er, wie er aus der Sache heil herauskommen konnte.
Valeria dachte ebenso fieberhaft wie er nach, wie sie den Soldaten beweisen konnte, dass sie ungefährlich war, doch ihr Verstand arbeitete nur zögerlich, und ehe sie entschied, was zu tun war, ertönten neue Schüsse – diesmal hinter ihnen.
Pablo und die anderen waren offenbar erwacht und zur Gegenwehr übergegangen, und in die Kampfgeräusche mischte sich Claires Stimme. Sie wollte die Männer vom Schießen abhalten – wohl, um Valerias Leben nicht zu gefährden, wenngleich auch sie sie nicht erkannt hatte. Doch der Hass der Soldaten auf die Paraguayer war größer als jede Vernunft, zumal einige von ihnen getroffen worden waren und vom Pferd fielen.
Claire hörte zu schreien auf – hoffentlich war ihr nichts passiert.
Valeria lugte vorsichtig hinter dem Baum hervor. Sie erkannte nicht viel, wusste nur, dass sie unmöglich länger untätig bleiben konnte. Am Morgen hatte sie sich die Haare zu einem Zopf geflochten, nun nestelte sie an dem Band, das ihn zusammenhielt, bis ihr die Locken offen über den Rücken fielen. Hoffentlich schien der Mond hell genug auf ihre Mähne, um sie eindeutig als
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