Die Rosen von Montevideo
wiegelte er ab. »Männer sind so grob, Frauen hingegen viel gefühlvoller. Ja, ich will nur Töchter, und ich werde sie nach meiner Mutter nennen.«
»Wenn du mehrere Töchter hast, wird ihr Name nicht reichen.«
»O doch, meine Mutter trug nämlich gleich mehrere: Maria Immaculata Monica Catalina … Meine Großmutter war sehr fromm, musst du wissen. Sie wollte, dass möglichst viele Heilige sie beschützen.«
Claire musste das erste Mal seit Wochen lachen. »Ich weiß gar nicht, ob meine Mutter auch mehrere Namen hatte. In jedem Fall hieß sie Antonie.« Kurz sah sie das klare, etwas strenge Gesicht ganz deutlich vor sich. Es war ihr gegenüber nicht immer nur abwesend gewesen. Gewiss, als Kind hatte Antonie nichts mit ihr anfangen können, aber als Claire älter geworden war, hatte sie viele vernünftige Gespräche mit ihr geführt. Ihrer Mutter gefiel es, dass sie so gerne Bücher las und klug und wissenshungrig war. Liebkost hatte sie sie allerdings nicht, und obwohl Claire nie gedacht hatte, dass ihr etwas gefehlt hätte, stellte sie sich jetzt plötzlich vor, selbst ein Kind zu haben, es in die Luft zu werfen, es jauchzend aufzufangen, es zu streicheln … Wie gerne wäre sie auch Luis durchs Haar gefahren, bis es wirr nach allen Seiten abstand und er von Herzen lachte!
»Ich glaube, ich wünsche mir lieber einen Sohn«, sagte sie leise und dachte insgeheim: einen Sohn wie dich – nur dass er länger Kind bleiben und mit seinem Vater durchs Land reiten darf.
»Den kleinen Antonio …«
Sie wollte schon widersprechen, dass sie ihr Kind nicht nach ihrer Mutter benennen würde, es vielmehr nur ihr gehören sollte – und Luis –, doch dieser Gedanke erschien ihr so anmaßend, dass sie vor Schreck gar nichts sagte und errötete.
Sei vernünftig!, ermahnte sie sich. Er ist ein Fremder, du kennst ihn erst seit wenigen Wochen.
Aber was immer sie sich einzureden versuchte – sie konnte sich des Gefühls nicht erwehren, schon ihr halbes Leben an seiner Seite verbracht zu haben und nie wieder darauf verzichten zu wollen. Und als Luis laut darüber nachdachte, wie der kleine Antonio wohl aussehen würde, lagen ihr die Worte auf der Zunge: Ich hoffe, so wie du!
Im letzten Augenblick presste sie die Lippen zusammen, nahm die Würfel und eröffnete die nächste Spielrunde.
Je mehr Tage ins Land zogen, desto größer wurde Claires Unrast. Mehrmals untersuchte die Wirtin ihr Bein, stellte fest, dass es noch bläulich verfärbt, aber nicht geschwollen war, dass der Knochen gut zusammenwuchs, aber noch nicht die Zeit gekommen war, aufzustehen. Anfangs ertrug Claire dieses Urteil stoisch, doch eines Tages rief sie ungeduldig: »Ich brauche frische Luft, sonst sterbe ich!«
Die Wirtin ließ sich nicht erweichen, Luis dagegen war immerhin bereit, sie nach draußen zu tragen.
Gierig sog Claire die Luft ein und sah sich um. Die Landschaft wirkte fremd. Waren sie vor dem Schusswechsel und ihrem Sturz vom Pferd durch dichtes, baumloses Grasland geritten, sah sie nun, dass die Poststation unmittelbar an einem Fluss lag, an dessen Ufer mächtige Bäume wuchsen: Urundays, Lapachos, Weiden und Akazien. Die Äste neigten sich so tief, dass sie das Wasser berührten und kleine Strudel um sie entstanden.
Am ersten Tag war Claire damit zufrieden, auf einer Bank vor dem Haus zu sitzen. Doch schon am nächsten bestand sie darauf, dass Luis sie in den Schatten der Bäume trug. Dort studierte sie die mächtigen Gewächse, die wenig mit den Buchen, Eichen und Ahornbäumen von den saftigen Taunuswäldern gemein hatten. Besonders fasziniert war sie von den großen, roten Blüten, die an einem Baum wuchsen.
»Das ist der Ceibo«, erklärte Luis. »Dieser Baum wächst nur an den Ufern des Río de la Plata oder in sumpfigen Gebieten.«
»Wie wunderschön seine Blüten sind!«
»Nun, aber noch schöner sind die Passionsblumen. Sie sind nach einem Märchen benannt.«
»Was für ein Märchen?«
»Das Märchen von einem Mädchen, das sich nach der Ermordung ihres Indio-Geliebten selbst tötet und aus dessen Wunde diese Blume wuchs.«
»Was für eine traurige Geschichte!«, rief Claire.
»Ja, aber sie sagt auch, dass aus etwas Traurigem etwas Schönes hervorgehen kann.«
Das galt auch in ihrem Fall. Es war unendlich traurig, dass Valeria verschleppt worden war, aber schön, dass sie mit Luis zusammen war – Luis, mit dem sie gut schweigen konnte, aber auch gut reden. Was sie in diesen Wochen durchmachte, hätte sie
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