Die Rosen von Montevideo
wurde heiser, so laut, wie er brüllte.
Zu Valentíns Überdruss gesellte sich Trauer. Sein letzter Rest an Vorsicht schwand; schonungslos offen bekannte er seine Gedanken: »Begreifst du denn nicht – ihr Tod wird immer grausam und sinnlos bleiben, auch wenn wir den Krieg gewinnen würden. Du kannst noch so viele Feinde töten und Mädchen entführen – sie bleiben tot, sie bleiben Ermordete!«
»Und wir müssen sie rächen!«, gellte Pablo.
»Indem wir Valeria gefangen halten? Sie ist für ihren Tod nicht verantwortlich. Ich glaube vielmehr, unsere Schwestern und unsere Mutter würden sich schämen, wenn sie sehen könnten, wie wir mit ihr umgehen.«
»Du bist ein Feigling, ein Verräter, ein Schwächling! Du bist ein …«
»Ach ja?«, fiel Valentín ihm hart ins Wort. »Würde ein Schwächling wirklich … das tun?«
Valentín wusste nicht, welch lang unterdrückte Macht seine Hand führte. Ehe er begriff, was er da überhaupt tat, ballte er sie zur Faust und schlug Pablo ins Gesicht. Als Kind hatte er manchmal versucht, den Bruder zu schlagen, doch lange bevor er Pablos Gesicht traf, war der ihm schon in den Arm gefallen, und hinterher hatte er sich immer ohnmächtiger gefühlt als zuvor. Nun aber machte er sich zunutze, dass Pablo trotz des Streits nicht mit einem Angriff gerechnet hatte. Valentín fühlte die warme Haut des Bruders, den harten Kiefer, die weichen Lippen, er hörte Knochen knacken und sah Blut fließen. Für einen Augenblick spürte er keine Zweifel und Zerrissenheit, nur heißen Triumph.
Doch Pablo hatte seine Fassung rasch wiedergewonnen und ging seinerseits auf ihn los. Valentín konnte sich nicht rechtzeitig ducken und bekam seinerseits einen heftigen Schlag ab. Doch die Tatsache, dass Pablo der wendigere und stärkere der beiden Brüder war, war früher Grund genug gewesen, vorzeitig aufzugeben. Nun jedoch heizte sie Valentíns Kampfbereitschaft an. Sollte er ihm eben Blessuren zufügen, bis er sich nicht mehr rühren konnte. Sollte der Bruder ihn eben totschlagen. Zumindest würde er nicht als Bücherwurm und Feigling sterben, den man verspotten konnte.
Unter Pablos zweitem Schlag ging er zu Boden. Anstatt sich windend liegen zu bleiben, umfasste er Pablos Beine und zerrte daran, bis auch der wankte und fiel. Sie verkrallten sich ineinander und rollten mehrmals um die eigene Achse. Wild schlug Valentín um sich und zögerte auch nicht, den Bruder zu kratzen und zu beißen. Pablo wehrte sich nicht minder grimmig, und irgendwann lag Valentín wehrlos auf dem Rücken und spürte, wie Pablos Hände sich immer fester um seine Kehle legten.
»Tu es doch!«, schrie Valentín mit letzter Kraft. »Bring mich um! Dann stehst du ganz alleine da, dann gibt es niemanden mehr außer dir, der sich an unsere Familie erinnert. Ist es das, was du willst?«
Es waren nicht diese Worte, die ihn zum Innehalten bewogen, sondern die anderen Männer. Bislang hatten sie mit ausdruckslosen Gesichtern erst dem Streit gelauscht, dann der Rauferei zugesehen. Nun zog der Schwarze Pablo zurück, während Pío verhinderte, dass Valentín mit den Beinen nach ihm trat. Valentín gab es bald auf, sich zu wehren, Pablo hingegen schlug wild um sich.
»Ohne mich wärst du verloren«, brüllte er. »Ohne mich wüsstest du nichts mit deinem erbärmlichen Leben anzufangen. Ohne mich würdest du in deinem Elend versinken. Ich habe dir wieder ein Ziel gegeben, eine Aufgabe, eine Bestimmung …«
Valentín klopfte sich gelassen den Staub von seiner Kleidung. »Manchmal muss man sich seinem Elend stellen und die Trauer zulassen«, sagte er leise. »Das bedarf mehr Mutes, als davor davonzulaufen und zuzudreschen.«
Er selbst konnte nicht fassen, warum er sich hatte dazu hinreißen lassen, Pablo zu schlagen, doch während der eigene Zorn verraucht war, tobte Pablos Hass hemmungslos. Erneut erhob er die Faust. Diesmal griffen die anderen nicht ein, riefen nur erschrocken: »Seht doch nur!«
Pablo fuhr herum, und als er begriff, worauf die anderen deuteten, ließ er die Faust sinken.
»Verfluchtes Miststück!«, knurrte er.
Valerias Schlafplatz war leer. Sie hatte ihre Auseinandersetzung zur Flucht genutzt.
Valeria wusste sofort, dass es eine Riesendummheit war, ihr Versprechen gegenüber Valentín zu brechen und einfach davonzulaufen. Unmöglich würde sie allein den Weg aus dem Dschungel finden, wo überdies hinter jedem Baum gefährliche Tiere lauerten. Unmöglich konnte sie hier ohne Wasser und Nahrung
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