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Die Rosen von Montevideo

Die Rosen von Montevideo

Titel: Die Rosen von Montevideo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carla Federico
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allein auf sich gestellt überleben. Und dennoch – als niemand auf sie geachtet hatte, war sie unwillkürlich aufgesprungen, und als immer noch niemand eingriff, war sie losgerannt. Pablo würde sie doch nur wieder schlagen, ihr vielleicht sogar noch Schlimmeres antun.
    Also lief sie weiter, bis ihr Fuß an einer Wurzel oder Liane hängenblieb. Sie stolperte, fiel hin, schrammte sich das Knie blutig. Kurz blieb sie erschöpft auf dem Boden kauern, ehe sie den Blick hob. Dunkelheit hatte sich über das Land gesenkt, nur die schmale Mondsichel spendete ein wenig Licht. In ihrem silbernen Schein glich der Dschungel einer Geisterwelt, in der alles zu Eis erstarrt war. Doch auch wenn man es nicht sah – das Rascheln, Knacken, Heulen, Zirpen und Gluckern verrieten nur allzu deutlich, wie gefährlich lebendig diese finstere Welt war. Die Furcht vor den Tieren wurde auf einmal größer als die Furcht vor Pablo, doch als sie, sich das schmerzende Knie reibend, aufstand, hatte sie keine Ahnung mehr, aus welcher Richtung sie gekommen war. Ein Baum glich dem anderen, und es war zu dunkel, um einen Weg auszumachen. Wahllos hinkte sie dort entlang, wo sie am meisten erkennen konnte – und landete prompt in einer Pfütze. Als sie das Wasser spürte, schrie sie entsetzt auf und sprang rasch auf einen umgestürzten Baumstamm. Der Wasserstand war zu niedrig, um ein Krokodil oder Piranhas zu beherbergen, aber sie befürchtete, dass sie beim nächsten Tümpel weniger Glück haben könnte. Besser, sie blieb hier hocken und wartete den Morgen ab.
    Für eine Weile wähnte sie sich in Sicherheit. Doch als plötzlich etwas Dunkles aus dem Gebüsch hochstob und dicht an ihrem Ohr vorbeiflatterte, schrie sie erschrocken auf. Sie umkrallte das Holz, auf dem sie saß. Den Drang, loszurennen, konnte sie unterdrücken, den zu schreien nicht. Erst waren es nur panische, spitze Schreie, dann begann sie, um Hilfe zu rufen.
    »Valentín!«, schrie sie. »Valentín!«
    Nur die Vögel des Urwalds antworteten ihr – und die schienen sie zu verspotten. Ihr Gekreische, das von allen Seiten kam, klang wie Gekicher. Nichts Menschliches verhieß der Chor des Dschungels – und nicht menschlich waren auch die Augen, die da auf sie gerichtet waren, ja, da durchbohrte sie ein Blick, sie fühlte es ganz deutlich.
    Sie hielt den Atem an, versteifte sich – doch jene Augen fixierten sie weiterhin. Eben noch hatte die drückende Schwüle Schweiß aus allen Poren getrieben, nun wurde ihr vor Schrecken eiskalt. Wer beobachtete sie? Wer wartete nur darauf, über sie herzufallen?
    Eine Wolke schob sich über die Mondsichel, und kurz war der silbrig anmutende Dschungel in Schwärze getaucht. In der Dunkelheit klang das Rascheln noch bedrohlicher. Es kam aus dem Gebüsch, kündete weniger von aufgeregtem Flügelschlag, sondern von Schritten, geschmeidig und kraftvoll zugleich. Valeria schloss die Augen und öffnete sie genau in dem Augenblick wieder, als der Mond hinter der Wolke hervorkam und sein kaltes, weißes Licht das Antlitz ihres bislang unsichtbaren Feindes enthüllte. Valeria starrte direkt in gelbe Augen.
    »Großer Gott!«
    Sie wusste nicht so viel von Tieren wie Claire, aber von diesem hier hatte sie die Männer häufig reden gehört, und jedes Mal war Angst in ihren Stimmen erklungen. So hatte sie gehört, man sei häufig den Angriffen dieser Tiere ausgesetzt – den größten und wildesten von Südamerika. Insbesondere wenn man ein Feuer entfachte, müsse man ganz besondere Vorsicht walten lassen, denn die Flammen würden dieses Raubtier nicht wie viele seinesgleichen vertreiben, sondern anlocken. Nun, sie hatte kein Feuer gemacht, und dennoch kauerte er nur wenige Schritte vor ihr – ein Jaguar mit seinem kräftigen, massigen Leib, den vielen schwarzen Ringflecken, dem kurzen Schwanz.
    Erneut schrie sie auf, woraufhin das Tier sich duckte. Keinen Moment lang hoffte sie, es vertreiben zu können. Wahrscheinlich setzte es vielmehr zum Sprung an. Schon glaubte sie zu fühlen, wie der Jaguar auf sie losging, wie Krallen in ihre Haut drangen, wie Zähne ihr Gesicht zerfetzten, wie er sie am Genick packte und schüttelte, und immer wieder hämmerte ein Gedanke durch ihren Kopf: Ich will nicht sterben, ich will nicht sterben, ich will nicht sterben.
    Nur daran, dass sie diese Worte innerlich so oft wiederholte, erkannte sie, dass Augenblick um Augenblick verging, ohne dass das Tier angriff. Die Augen blieben feindselig auf sie gerichtet, der

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