Die Rosen von Montevideo
muss auch oft an meine vielen Landsmänner in Kriegsgefangenschaft denken. Nur wegen des Polizeidiensts war ich bislang vom Heeresdienst befreit.«
Claire erschrak. Was, wenn sich daran etwas änderte? Nicht auszudenken, dass sie nicht nur um Valerias Leben bangen müsste, sondern auch um das von Luis!
Plötzlich kam es ihr widersinnig vor, auf das Vergnügen eines Bades zu verzichten. In einer Welt, in der nichts sicher und nichts von Dauer schien, galt es, alle Augenblicke des Glücks auszukosten – waren sie noch so kurz und flüchtig.
»Nun gut«, stimmte sie zu, »aber ich werde nicht schwimmen, nur ein wenig im Fluss waten.«
Er lächelte, und sie erwiderte es, doch ihr entging der schmerzliche Ausdruck seiner Augen nicht und war gewiss, dass er den ihren spiegelte.
Noch öfter ritten sie zum Fluss. Claire fühlte sich auf dem Pferderücken langsam wieder sicher, und zu Fuß war sie so schnell unterwegs wie früher. Das bedeutete allerdings, dass Luis sie kaum mehr an der Hand hielt, und sie vermisste diese körperliche Nähe schmerzlich und überlegte sich oft, wie sie ihn veranlassen könnte, sie zu berühren. Leider fiel ihr kein probates Mittel ein – bis es an einem Tag ganz leicht, ja selbstverständlich wurde, die Distanz zu überwinden.
Das Wetter war bis jetzt immer schön gewesen – nicht zu warm, nicht zu kalt –, doch während eines weiteren Ausritts zog ein Sturm auf, trieb erst Sand in ihr Gesicht und dann fast waagerecht Regentropfen. Innerhalb kürzester Zeit standen tiefe Pfützen auf dem Weg, und sie waren bis auf die Knochen durchnässt. Weit und breit war keine Gastwirtschaft zu sehen – nur eine winzige Scheune, in der sie hastig Zuflucht suchten.
Unter deren Dach waren sie vorm Regen geschützt, doch durch die Ritzen wehte weiterhin kalter Wind. Claire hatte noch gelacht, als das Unwetter aufgezogen war, und war von den dunklen Wolkentürmen, die sich am Himmel zusammenbrauten, fasziniert gewesen, nun jedoch zitterte sie am ganzen Leib.
Kurzentschlossen zog Luis sie an sich, um sie zu wärmen. Auch dicht an ihn gepresst, konnte sie nicht aufhören zu zittern – wenn auch nicht länger vor Kälte, sondern vor unterdrückter Erregung, ihm so nahe zu kommen. Eine Weile verharrte sie in seiner Umarmung und genoss sie einfach nur. Dann gestand sie unwillkürlich: »Ich bin so froh, dass du bei mir bist.«
Sie bemerkte, dass auch er erbebte. Er rang nach Worten, doch ehe er welche fand, hatte sie sich auf die Zehenspitzen gestellt und ihn auf die Wange geküsst, und als er nicht von ihr abrückte, sie lediglich verblüfft anstarrte, wurde sie noch mutiger und gab ihm einen zweiten Kuss – direkt auf den Mund.
Das Glück, das sie in diesem Augenblick empfand, fühlte sich ein wenig verboten an, gleich so, als würde sie auf einem Friedhof tanzen, aber sie konnte nicht anders, als den Kuss auszukosten.
Wie wunderbar es war, seine Lippen zu schmecken, die gar nicht so hart waren, wie sie oft anmuteten! Wie aufregend, seinen warmen Atem auf ihrem Gesicht zu fühlen! Welch ein Nervenkitzel, so lange ihre Lippen auf seine zu pressen, bis sie sich öffneten und ihre Münder verschmolzen!
Als sie sich voneinander lösten, war er hochrot im Gesicht – und seine Züge so weich und entspannt wie an jenem Morgen, als sie ihn im Schlaf betrachtet hatte. Und wenn sie es bisher noch geleugnet hatte, so schrie nun jede Faser ihres Körpers die Wahrheit: Ich liebe ihn. Ich liebe ihn so sehr. Ich will den Rest meines Lebens mit ihm zusammen sein.
Immer tiefer drang Pablos Truppe nach Paraguay vor. Nach der Reise auf dem Fluss ging es wieder mit den Pferden durch den Dschungel weiter. Allerdings mussten sie oft absteigen, weil der dichte Pflanzenwuchs ihnen den Weg versperrte und mit Macheten gefällt werden musste, bevor ein Durchkommen möglich war.
Wenn es von den Bäumen in ihren Nacken tropfte, Blätter an ihr kleben blieben und ihre Füße sich in Schlingpflanzen verhedderten, wähnte sich Valeria, in ein verwunschenes Land geraten zu sein, das an wirre Träume und dunkle Märchen denken ließ – ein Land, das nicht für Menschen, sondern für Fabelwesen gemacht worden war. Feindselig wurden sie hier als Eindringlinge gemustert – von tausend unsichtbaren Augen, die sich im Dickicht versteckten. Selbst die farbenprächtigen Blumen schienen lebendige Wesen zu sein: Dornige Akazien wucherten neben blühenden Jacarandabäumen, auf toten Baumstämmen, die von Stürmen
Weitere Kostenlose Bücher